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Preisgabe herrührt, sowie die Existenzangst, sich keine Skiurlaube leisten zu können von dem, was ihm am wichtigsten ist (und ausgerechnet heute winken ihm Business Class und Vorzimmer). Aber nichts mehr davon, es entwürdigt zu sehr. Er entschuldigt sich mit der Erschöpfung nach dem Irrlauf, die heute noch anhält. Nicht entschuldigt ist er für den Anruf bei dem Bildhauer in München, dem er gedanken- oder hilflos ein gesegnetes Nouruzfest wünschte, eyde schomâ mobârak . Nein, das Fest ist nicht gesegnet, hörte er als Antwort. Die Gnädige Frau ist jetzt nachts fast immer wach, ohne bei Besinnung zu sein. Dem Musiker wünschte er zum Glück kein frohes Fest, als er auf dessen Anrufbeantworter sprach.
Weil der Handlungsreisende noch im Stehen mit der vierundachtzigjährigen Ãbersetzerin ins Gespräch fand, plazierte ihn der Verleger neben sie und damit auf dessen eigenen Platz am Ende der Tafel in Auerbachs Keller, zu der gestern der Verlag seine Autoren und Freunde einlud. Einige Sekunden fühlte er sich wie ein Jäger, der ein Tier ins Visier nimmt, und hätte sich dafür beinah mit einem Platz am anderen Ende der Tafel bestraft, wo einige Freunde des Verlags so penetrant fröhlich taten, als spielten sie die Szene aus dem Faust nach. Allein, er ist doch ebenso ein Drogist, der nicht genügend Medikamente hat für alle, die sterben, und glüht für jeden, dem er sein Gedächtnis schenken kann, ein Diener, ein Liebender. Daà die Ãbersetzerin zu den Menschen gehört, die sein Leben bevölkern, hoffte und fürchtete er nach drei Minuten. Zeuge ihrer Begegnung mit dem Verleger gewesen zu sein wiegt die messetypische Häufung von Begegnungen auf, denen es an jedweder Notwendigkeit gebricht. Ein nicht nur akustisch überdrehter Gott ⦠Mephisto, 11:32 Uhr, Freitag, 23. März 2007, Leipzig, vorm Hotelfenster schallisoliert die Autobahn: Der Bildhauer ruft aus München an, um mitzuteilen, daà die Metastasen das Gehirn erreicht haben. Gestern bereits teilte der Musiker mit, daà man eine Gehirntomographie oder dergleichen vornehme, um zu klären, warum das BewuÃtsein der Gnädigen Frau getrübt, ob die Trübung endgültig ist. Es ist schrecklich, sagt der Bildhauer, ich will dir das alles gar nicht erzählen. Ich rufe dich später wieder an. Der Handlungsreisende fragt sich, wie er den zweiten Tag auf der Messe übersteht. DrauÃen liegt Schnee, der wird ihn kühlen. Schon gestern ist er entlang der Autobahn spaziert, als er zwischen zwei Terminen nicht wuÃte wohin.
9:29 Uhr oder 9:48 Uhr am 24. März 2007, soeben Jena Paradies passiert, Ankunft in München laut Fahrplan 12:39 Uhr, bislang keine Verspätung. Die Klassenkameradin aus Siegen, die er zum ersten Mal seit dem Abitur sah, nahm ihn wie ein Findelkind von der Messe mit zu sich nach Hause. Sie war eindeutig die Hübscheste im gesamten Gymnasium, hübsch im Sinne allgemeinüblicher Kriterien, ihr Haar zu allem Unglück auch noch gülden. Jetzt ist sie kein hübsches Mädchen mehr (und sehr froh darüber, glaubt er), sondern eine schöne Frau mit dunkelbraun gefärbten Haaren, die sich einen neuen Namen gegeben hat und erfolgreich ist mit dem, was ihr gefällt. In ihrer Küche tranken sie schwarzen Tee mit Zimt und waren innerhalb von Minuten vertrauter als je in ihrer ersten Lebenshälfte. Was ist mit ihm geschehen? Beinah täglich hat er auf der Handlungsreise Begegnungen, die sanft, aber anhaltend erschüttern. Wie sagt man? Ein offenes Scheunentor? Vor Müdigkeit fällt ihm die Redewendung nicht ein. Sein Inneres ist offen wie ein Scheunentor â sagt man das so? Ist auch egal. Freundschaft ist, sich beim Sterben zuzusehen, meinte die Klassenkameradin oder etwas Ãhnliches. Unsicher ist er wegen des ersten Satzteiles. Vielleicht sprach sie von Leben, nicht von Freundschaft. Leben ist ⦠oder: In letzter Zeit komme es ihr vor, als würde sie allen, sogar in der Stadt, auf dem Spielplatz⦠beim Sterben zusehen , lautete jedenfalls die zweite Satzhälfte. Das genau, das genau ist seine Beschäftigung geworden: beim Sterben zusehen, noch den Gesündesten, den Jüngsten. Später einmal, in Jahren, wirst du etwas lesen von mir, sagte oder dachte der Handlungsreisende, er weià es nicht mehr, dann wirst du genau an diese Minute denken, in der wir nebeneinander auf dem Sofa deiner
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