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mittags wieder nach München zur Lesung. »In der Regel ist der Zug die bessere Option als zu fliegen, weil ich die Fahrt zum Arbeiten oder Lesen nutzen kann«, heiÃt es in einem Roman, wie er ihn früher schrieb. Wenn der Romanschreiber jetzt daraus liest, tappt er auf jeder Seite in eine Grube. »Ich dachte, wenn die Möglichkeit eins zu hundert sei, daà ich gebraucht würde, müsse ich jetzt fahren.« Immer wird gefragt, was an Romanen autobiographisch sei, aber verdammt, wennâs gut ist, erkennt man sich eben wieder, so wie sich jeder Leser darin finden könnte, jeder Leser woanders. »Schlimmstenfalls kehre ich nach zwei Tagen zurück, fünfhundert Euro, im Zug könnte ich lesen.« Immer am Puls der Zeit, druckt die Lokalzeitung ausgerechnet heute ein fröhliches Photo von ihm ab. »Schauspieler-Tod als Buchvorlage« heiÃt die Ãberschrift des kleinen Artikels, der zufällig unter Folge drei der Serie »Wir sind Klasse« plaziert ist, »Der Chor der kleinen Kölschen«. Eines der beiden Zitate ist besonders verwerflich: »Deshalb bin ich auch nicht zur Beerdigung gegangen, das wäre nämlich in erster Linie aus beruflichen Gründen gewesen.« Das warâs für heute. Mehr geht nicht, nicht einmal Hölderlin. Statt von der Begegnung mit dem Obdachlosen zu berichten, iÃt er mit der Tochter zu Mittag und nimmt sie anschlieÃend zu Paul Klee ins Museum, das hilft ihm, und nichts hilft der Tochter dagegen. Wenn er fährt, wird er sie einige Tage nicht sehen. Sie hat der Gnädigen Frau ein Bild mit Aquarellfarben gemalt, etwas Kubistisches in hellen Farben. Sie würde verstehen, warum er nicht in Köln ist. Sie würde ihn auch nach München begleiten, wenn die Gnädige Frau sich darüber freuen würde. Dafür würde sie den Besuch bei den GroÃeltern noch einmal verschieben. Das wird sich ergeben. Erst einmal muà sich herausstellen, wo der Platz ihres Vaters ist und wer solange ihre Mutter versorgt, die noch fast vier Monate im Bett liegen muÃ. Schritt für Schritt. Die Gnädige Frau ist auf der Palliativstation, der Musiker nicht mehr klar wie gestern, der Bildhauer am Ende und die Sängerin mit verquollenen Augen. Das ist die Familie in München, mit der er verbunden ist, alâqeh wie Glieder einer Kette.
Aus genanntem Grund wirkte er auch in Mannheim souveräner als bei anderen Romanen, wie er sie früher schrieb, und so heiter, daà es Bekannten auffiel. Mit der Moderatorin, die er selbst vorgeschlagen hatte, konnte er sich nicht einigen, worüber sie reden. Erst auf dem Podium merkte sie, daà er nicht nachgab. Als sie nicht mehr wuÃte, was sie weiter fragen könne, blickte sie ihn ratlos an und sagte nach mindestens einer halben Minute der Stille: Ich glaube, Sie müssen jetzt was lesen. Die dreiÃig Sekunden waren kostbar, dieses Nichtweiterwissen, wie er gegen Ende der Lesung auch formulierte. Manchmal miÃlinge ein Gespräch, gerade unter Menschen, die sich viel sagen möchten. Im Ergebnis schweige man sich eben an. Auch MiÃverständnisse könnten interessant sein, für ihn auf dem Podium bereichernder als die Behauptung, sich zu verstehen. Die Moderatorin schrieb später von einem »wilden, schönen Abend: Ich muss sagen, mir gefällt es, wenn die Sache einmal anders läuft â gelangweilt hat sich jedenfalls keiner!« Nein, er hat sich am Abend des 1. März 2007 in Mannheim nicht gelangweilt, als der Bildhauer in München nicht ahnte, daà sein Sohn ebenfalls an Krebs erkrankt ist. In der Nacht legte ihn der Rücken wieder lahm, der immer gleiche Nerv rechts neben dem Brustwirbel, nur daà das Opiat nicht mehr wirkt und er zum dritten Mal im noch jungen Jahr selbst den Notfall in der Universitätsklinik gab. Als er aus dem Rausch erwachte, sah er im Frühstücksfernsehen einen Bremer, der unschuldig in Guantánamo Bay einsaÃ, weil die deutschen Behörden seine Rückkehr hintertrieben. Der Musiker hat keine Angst, nur immer mehr Schmerzen, sagt er und ist zugleich froh, daà es endlich »abgeht«. Allerdings weià er keinen Rat, wie er es dem Vater verbergen könnte, falls die Ãrzte sich für die »harte Nummer« entscheiden, die ihn ans Bett fessele. Die Sängerin hat es mit heftigen Rückenschmerzen ebenfalls niedergeworfen, so daà der Musiker die Lücke im Tagesplan kompensieren
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