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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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kalt wird in mir, richtig eisig. Es ist sehr erfrischend. Jeder Atemzug fühlt sich an, als seiest du am Nordpol. Dein Kopf beginnt zu frieren. Beim Einatmen kriegst du so unglaublich viel mehr Luft, als du es je für möglich gehalten hättest. Das beginnt, in dich einzuströmen. Es hat etwas Magisches. Manchmal, wenn es geschieht, fragst du dich, ob du wieder okay sein wirst.« Sie hat ihn zurückgewiesen. Die Direktrice gestand ein, es zu bereuen. – Wieso hast du nicht gesehen, daß ich dich liebte? Ich habe es allen gesagt. – Nur mir nicht, gibt der Liebhaber zur Antwort. Mich hast du zurückgewiesen. Ja, weil … ich weiß. Zu melden hat er am 22. März 2007 um 3:13 Uhr morgens in einem Hotel in Wien, wo er vorgestern abend zu seinem Verdruß, der den ganzen folgenden Tag anhielt, trotz des Trainings nicht gut oder noch schlechter als sonst las, zu melden hat er außerdem, daß ihn gestern abend, bevor er von der Sprengkraft einer Berührung zweier Körperseiten sowie einer Fingerkuppe auf seinem Handrücken erfuhr, das Angebot eines respektablen, mit seiner Arbeit und seinen Interessen ideal korrespondierenden Brotberufs erreichte. Er sagte nicht sofort ab, sondern überlegte, was der Sinn des Angebots sein könne gerade jetzt, denn einen Sinn muß es aus seiner Sicht haben, weil alles einen Sinn hat oder nichts. Zu melden hat er noch eine zweite Verzückung, die ihm zuteil wurde, als er sich vor der Lesung beim Joggen im Wienerwald verlief. Der Körper, der nicht müde werden wollte, das Bewußtsein im Endorphinrausch, trabte er auf weichem, wie gefedertem Boden zwischen den schwarzgrauen, ab der doppelten Körperlänge rotglimmenden Stämmen der Nadelbäume, hinter sich ein stiller See und der Sonnenuntergang, zu denen er sich immer wieder im Laufen umdrehte: »Gut, das ist nun wirklich wunderschön«, wie Neil Young nach der Entfernung seines Aneurysmas beim Blick aus dem Krankenzimmer sagte. Beide Zustände, deren Wendung ins Ekstatische nicht länger als ein, zwei Minuten währte, sind genau das, worüber der Handlungsreisende sprach, bevor er fahrig wurde aus Erschöpfung von dem dreistündigen Lauf am Nachmittag und der Angst, ohne Handy im Wienerwald den Rückweg zum geliehenen Auto nicht rechtzeitig zur Lesung zu finden: im Diesseits aus dem Diesseits herauszutreten. Klugerweise erwähnte er die je spezifischen Lehren und Praktiken, die es bedürfe, um ebenjene Form- und Sprachlosigkeit zu erreichen. Der Theaterregisseur, der moderierte, hatte ständig von »Gott« gesprochen, von »göttlich«. Sie brauchen die Namen nicht, sagte der Handlungsreisende den Wienern: Denken Sie daran, wie manchmal eine Musik oder ein begehrter Körper Sie entrückt, wie sich das anfühlt. Denken Sie daran, wie Sie sich in einzelnen Momenten vergessen und gerade dadurch bei sich sind, dieser Eindruck von Erfüllung im Sinne von übervoll mit etwas, das in Sie hineinströmt. Es muß nicht in der Philharmonie sein oder beim Orgasmus. Das Streichen der Fingerkuppe über einen Handrücken kann genügen. Es strömt nicht in Sie ein, es strömt aus Ihnen heraus. Diese Entäußerung meinen die Mystiker, für die Gott keine Person ist, sondern alles, was ist, und göttlich ein Zustand, der ihnen anders als uns nicht nur für Momente zuteil wird, ein Zustand der Gegenwärtigkeit, nicht des Vergessens, ein Zustand der Erde, nicht des Himmels oder vielleicht eines Himmels auf Erden. Um sich wieder einzufangen, demonstrierte er den Wienern anschließend, daß er in seinen Romanen zwanghaft zu Peinlichkeiten und zur Fäkalsprache neigt, wo immer er über die Liebe schreibt, und vermeldet er zum Schluß seiner Nachrichten die bange Erwartung beim Durchblättern der Literaturbeilagen, die ihm zuwider ist, diese offenbar unausrottbare Eitelkeit, wichtig zu nehmen, was andere über einen schreiben. Bevor seine Fingerkuppe über ihren Handrücken strich, meinte die Direktrice, daß sie in der betonten Bescheidenheit iranischer Männer – sie kennt zwei – einen übermächtigen Narzißmus spüre. Sie meinte das wohlwollend, genießt sie doch die Galanterie der beiden iranischen Männer, zu denen sie ihn also zählt. Was die Literaturbeilagen betrifft, kommt zu der Eitelkeit noch etwas anderes, keineswegs Rühmlicheres, hinzu, die Verletzbarkeit, die von der

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