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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Küche saßen und Tee tranken mit Zimt. Du wirst denken, daß der Klassenkamerad aus Siegen die Freundschaft, das Leben oder die damalige Zeit genauso wahrnahm, ihr euch also deshalb an jenem Nachmittag nach zwanzig Jahren so überraschend wie beim Pfingstwunder verstandet. Im Taxi, das ihn zur Lesung brachte, lag sein Kopf mit geschlossenen Augen auf ihrem Schoß, als der Bildhauer wieder anrief. Die Gnädige Frau ist gerade zum ersten Mal seit Tagen wieder bei Bewußtsein, erklärte er mit gedämpfter, dringlicher Stimme, weil er auf der Palliativstation war. Sie will dich sprechen. Sie ist wach geworden und hat als erstes gesagt, daß sie dich sprechen will. Warte, ich gebe sie dir. – Navid, rief die Gnädige Frau wie mit letzten Kräften, nein, nicht wie – rief die Gnädige Frau mit letzten Kräften. Naviiiid mit der persischen Betonung der letzten Silbe, nur länger. Naviiiid, es geht zu Ende. Den Satz sagte sie auf deutsch, von da an wechselte sie zwischen den Sprachen. Sie sagte, daß sie ihren Schwestern einen Brief geschrieben habe wegen des Grundstücks. Es wird seinen Töchtern gehören. Das war es, was sie ihm sagen wollte. Er hat keine Ahnung, welches Grundstück sie meint. Chânum, rief er auf persisch, ich komme, Chânum, ich küsse Ihre Hand, Chânum, ich bin schon auf dem Weg, morgen bin ich bei Ihnen. Noch im Taxi rief er den Verleger an, um für morgen alle Termine abzusagen. Und die Lesung gleich? fragte der Verleger, der den Roman kennt, den ich schreibe. – Bin auf dem Weg dorthin. 10:10 Uhr oder 10:29 Uhr. Um die Zeit bis München zu vertreiben, kehrt er zu Auerbachs Keller zurück, wo der Verleger und die Übersetzerin rechts und links von ihm saßen. Könnte er schon im Hier und Jetzt bezeugen, was er von ihr sah – vielleicht müßte er sie mit keinem Kapitel mehr bedenken. Ein nicht nur akustisch überdrehter Mephisto-Clown verwandelte Deutschlands Dichtertempel endgültig zum Themenpark. Als die Übersetzerin zum ersten Mal von der Notwendigkeit sprach, Dostojewski vollständig neu zu übersetzen, war der Verleger Ende Zwanzig. Sie wird Anfang Vierzig gewesen sein. Wie sie wohl ausgesehen haben mag? Ob er sich in sie verliebt hat? Oder sie sich in ihn? Der Verleger war immer schon leicht entflammbar, damals noch Lektor in Frankfurt, wo der legendäre Chef große Stücke auf ihn hielt, wie die Übersetzerin berichtete. Wir schaffen das, wird der Verleger gerufen haben, als er noch keiner war, wir schaffen das. Sie haben es geschafft, sie haben den gesamten Dostojewski neu übersetzt, im eigenen Verlag, mit Schreibmaschine und der inzwischen auch schon greisen Sekretärin, die nach der Fertigstellung des letzten Bandes wegen Gicht gekündigt hat, eine Katastrophe für die Übersetzerin. Sie haben es geschafft, den ganzen Dostojewski, sie haben zusammen triumphiert. Und nun saßen sie sich fast vierzig Jahre nach ihrer ersten Begegnung und vier Stunden nach der Verleihung der wichtigsten und höchstdotierten Auszeichnung für Übersetzer im deutschen Sprachraum gegenüber in Auerbachs Keller mit dem Romanschreiber in ihrer Mitte, der noch nicht auf der Welt gewesen, als sie sich die Neuübersetzung des gesamten Dostojewskis erträumt, und schienen sich gar nicht im Klaren darüber zu sein, was die Vollendung für die Literatur und für ihr eigenes Leben bedeutet, oder sprachen jedenfalls nicht darüber, taten ganz normal. Der Clown, der Mephisto sein sollte, hatte endlich das Mikrophon abgestellt. – Ihr habt es geschafft, rief der Romanschreiber und schaute abwechselnd nach links und rechts, Sie haben es geschafft, du hast es geschafft. Die Übersetzerin und der Verleger schauten sich an und lächelten für einen Augenblick wie zwei Verliebte, die sie bestimmt einmal gewesen sind. Danach taten sie für den Rest des Abends wieder, als sei nichts geschehen. Nächster Halt Nürnberg, wo der Romanschreiber trotz der Verspätung noch Anschluß hätte.
    Der Zug passiert im Schrittempo eine Baustelle zwischen Nürnberg und Würzburg. 22:14 Uhr auf dem Laptop, also früher. Jetzt steht der Zug wieder, den er notfalls auch anschieben würde, um nach Hause zu kommen. Zwanzig, dreißig Seiten des neuen Ransmayr gelesen, die ihn enttäuschten, gegessen im Zugrestaurant, das biologisch angebaute Hauptgericht, nicht der übliche Salat mit

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