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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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zu einer Lesung, davor drei Telefonate und mindestens die fünf Mails beantworten, die er wider besseres Wissen für wichtig hält. Selbst Punkt drei verschiebt sich auf morgen. Also 2d) Als er vor ein paar Minuten überlegte, was noch mal Punkt drei war, rief eine Dame von der Europäischen Union in Brüssel an und fragte in Englisch mit niederländischem oder flämischem Akzent nach seiner Faxnummer, seiner Adresse, seiner Berufsbezeichnung und seiner korrekten Anrede. – He is a member of the Deutsche Islam-Konferenz, isn’t he? – Yes, he is, gab er freundlich Auskunft, korrigierte zwei Irrtümer in der Kurzbiographie und hätte auch versichert, the member of the Deutsche Islam-Konferenz zu grüßen, wenn sie sie sich in ihrem flämischen oder niederländischen Englisch nicht schon wieder verabschiedet hätte: That was very kind of you. Thank you very much. – You’re welcome. Good bye. – Good bye. Das war noch nicht die Anekdote, sondern nur der Grund, warum sie ihm einfiel. Also 2d) Vor Jahren organisierte ein Freund aus der Kneipe eine große Feier zum 50. Geburtstag Neil Youngs. Von einem Bekannten, der bei der Plattenfirma arbeitete, hatte der Freund eine Faxnummer. Er wollte Neil Young das Programm schicken. Er dachte, daß Neil Young sich vielleicht freut, aber bestimmt nicht ärgert. Es waren gute Leute dabei, nicht nur die üblichen, viele junge, aufregende Bands, und der Zettel sah hübsch aus, das Theater damals die Avantgarde Berlins.Über Tage versuchte es die Praktikantin, aber kein Fax meldete sich. Schließlich probierte es der Freund selbst, gedankenversunken zwischen dieser und jener Erledigung. Es klackerte in der Leitung, und plötzlich war etwas zu hören, allerdings nicht das Piepsen der Faxmaschine, sondern eine bekannt klingende Stimme: Hello. – Äh, who ist there? fragte der Freund. – Neil Young, sagte die Stimme. Der Freund war so entgeistert, daß ihm nichts anderes einfiel als zu fragen: Can you switch on the fax machine? – Sure. – Thank you. – You’re welcome. – Good bye. – Good bye. Wenn Sie, verehrte Dame von der Europäischen Union, den Roman, den ich schreibe, einmal in flämischer oder niederländischer Übersetzung lesen, denken Sie daran: Das ist nichts gegen das, was einem Freund des Romanschreibers geschah. Sie, verehrte Dame, hatten den Anruf schon längst vergessen. Der Freund hingegen ärgert und freut sich darüber noch heute, wenn er nicht gestorben ist. Jetzt klingelt schon wieder das Telefon, Münchner Nummer … Dramaturgisch würde das Telefonat an den Anfang gehören, als Punkt 1), nur ist Punkt 1) schon lange vorbei. Da er das Telefonat auch nicht einschieben kann, berichtet er davon am Schluß, als Punkt 0). Er darf sich jetzt nicht aus der Ordnung bringen lassen, sonst schafft er es nicht bis Punkt 6) oder 7) oder 8).
    3) Er hat erfahren, wie György Ligeti starb: Als sie in den ersten Stock gekommen seien, berichtete einer der Biologen auf der Trauerfeier, habe György Ligeti still im Bett gelegen, ein eindrucksvoller Kopf, eingebettet in Weiß, mit vom Leid gezeichneten Gesichtszügen und einem tiefen, scheinbar regungslosen Blick. Er habe sie aus dunklen Augen angeschaut, ohne die geringste Gemütsregung erkennen zu lassen, stumm, wächsern, so beschrieb es der Biologe auf der Trauerfeier. Auf der Decke hätten zwei Hände krampfartig verkrümmt gelegen, wie nicht mehr zu ihm gehörend. Nach einem kurzen Blick habe György Ligeti die Augen geschlossen und sie stumm gewähren lassen. Da hätten sie (noch andere Biologen?) gesessen und ihr Diskussionsspektakel aufgeführt, als ob sie nichts erschüttern könne, nur um ihre eigene Betroffenheit zu überspielen, schämte sich der Biologe. Sie hätten nicht mehr mit Ligeti geredet, sondern gemeint, für ihn zu reden, bis György Ligetis Frau (oder Freundin?) den Eindruck gehabt habe, es sei nun zuviel für ihn, und sie sich verstört in die Küche verzogen hätten. Der Biologe wird den stummen Blick aus zwei großen, offenen Augen bei ihrem Abschied nie vergessen. Das sei nicht mehr György Ligeti gewesen, berichtete er auf der Trauerfeier, sondern einer, der mit György Ligeti abgeschlossen hatte. Ob Ligetis Frau oder Freundin die junge Asiatin ist, die ab und zu im Wissenschaftskolleg neben ihm saß? Der Biologe

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