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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Menschheit, was keine Kunst schafft. Jeder Mensch kann ein erster Mensch sein. Unter den Büchern schaffen das nur die Offenbarungen. Das Publikum räusperte sich vernehmlich, als er sich zum Vergleich der Kinder mit Romanen verstieg, aber Ruth Schweikert, die ihren fünften Sohn, der drei Monate alt ist und im Vergleich zur Frühgeborenen bereits aussieht wie ein Hüne (die Frühgeborene ist etwa so klein und schmal wie sein Bein), Ruth Schweikert ist dem Kollegen sofort beigesprungen. Sie würde für ein Buch auch über Leichen gehen, gut, nicht über Leichen, natürlich nicht, aber wenn’s drauf ankäme über den eigenen Mann. Die Skrupellosigkeit müsse man haben (und mit dem Mann hat sie fünf Kinder), das eigene Leben, die eigenen Beziehungen zu verwerten, wo es der Literatur dient (niemals umgekehrt wie in den Skandalbüchern, waren sie sich einig). Natürlich kaschiert man es in den Texten (oft liege darin ein Mehrwert). Natürlich versichert man der eigenen Frau, dem eigenen Mann, daß er oder sie das wichtigste im Leben sei, bemühe sich auch regelmäßig, es im Alltag zu beweisen, ein nobles Abendessen, die sexuellen Stimulierungen, für ein Wochenende mit dem Billigflieger nach Lissabon … es ist nicht die Zeit. Ein Manager oder Politiker hat wahrscheinlich noch viel weniger Zeit als sie. Es ist die Perspektive. Kunst ist immer, muß immer die Mitte des Lebens sein. Und plötzlich schlüpft ein Kind aus dem Bauch der Frau, die sich ohnehin nicht genügend wahrgenommen fühlt – und ist vom ersten Tag dort, wo sie nie sein wird. Viel fehlt nicht, dann würde er noch bereuen, ausgerechnet am Abend, bevor die Fruchtblase geplatzt ist, den Kompromiß zwischen äußeren Notwendigkeiten und innerer Bestimmung verworfen zu haben, den er mit der Stelle in Berlin eingegangen wäre. Seit dem 17. April 2007 wäre er für Kompromisse noch empfänglicher als Hölderlin. »Ich gestehe dir, daß ich nach und nach finde, wie es jetzt fast unmöglich ist, blos von der Schriftstellerei zu leben«, schreibt dieser am 4. Dezember 1799 an Neuffer und überlegt, ob er »über kurz oder lang Vikar [also doch ein kirchlicher Beruf, der Wunsch der Mutter], Hofmeister [was er im Überschwang aufgegeben hatte] oder Hausinformator werden will [was immerhin verheißungsvoll klingt]«. Letzteres, was immer es ist, scheint ihm das beste, gerade weil es die Anstellung mit dem geringsten Ansehen ist: »darum wählte ich gern einen Posten, der keinen großen Aufwand von Kräften, und nicht viel Zeit erforderte«. Für ein paar Jahre müsse man es unterlassen, ernsthaft schreiben zu wollen, allenfalls daß man sich der Ungeheuerlichkeit selbst zuwende, ein Kind auf die Welt gesetzt zu haben. Einige Bücher würden nicht geschrieben oder sich mindestens verschieben. Im besten Fall entstünden andere. In Ruth Schweikerts Romanen wimmelt es von Kindern. Später verschwinden sie wieder, nur in den ersten Jahren kann man ein Kind sowenig ignorieren wie im Salon den Kinderwagen, den Ruth Schweikert mit auf die Bühne genommen hatte. Es ist da. Es sind nicht nur Bücher da. Das Praktische wäre zu bewältigen, wenn man etwas Dringliches zu sagen hätte, so wie Ruth Schweikert den Salon bewältigte, indem sie den Sohn, der ausgerechnet während der Lesung zu plärren begann, kurz entschlossen an die Brust legte, um fortzufahren. Notfalls schreibt man, wenn andere schlafen, und was nicht geschrieben werden kann, muß nicht geschrieben werden. Wie die Ärzte, Schwestern und Apparate die Frühgeborene versorgen, wie die Krankenkasse, die Diakonie und deren beiden polnischen Haushaltshilfen, die sich abwechseln, die Familie unterstützen, erfüllt ihn wieder mit der Dankbarkeit, in einem Sozialstaat zu leben. Das Problem ist nicht die Vereinbarkeit, die in Westeuropa so weit gediehen ist, daß eine Künstlerin ihr Kind auf der Bühne stillt, wie es sich vor ein paar Jahren allenfalls die Gastarbeiterfrauen verschämt auf Parkbänken erlaubten. Das Problem ist, daß etwas vereinbart werden muß. Die Behauptung ist so geläufig wie falsch, daß über das Glück nur in der Vergangenheit zu sprechen sei. Für die Verzückung mag das gelten. Das Glück ist bodenständiger, nicht so exzentrisch. Es ist nicht unverwüstlich, aber wenn es einmal da ist, läßt es nicht

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