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es begreifen noch erklären zu können. Aber es ist da, es atmet, das ist das wichtigste, es atmet in tiefen Zügen in seinem gläsernen Kasten, einer Nachbildung von Schneewittchens Sarg in ZwergengröÃe. Der Vater macht den Oberkörper frei und zieht den blauen Kittel verkehrt herum wieder an, also mit der offenen Rückseite nach vorn. Er legt sich in den Camping-Liegestuhl, den die Krankenschwester in der einzigen Ecke ausgeklappt hat, die nicht vollgestellt ist mit Apparaten. Dann legt die Schwester dem Vater die Frühgeborene mitsamt der Schläuche und Kabel auf die nackte Brust und deckt sie zu. »Känguruhen« nennt man den Vorgang im Jargon des Perinatalzentrums, wie der Vater aus der Kneipe bereits wuÃte, und die zwei Kumpel, die es selbst erlebt hatten, sprachen davon seliger als über den schönsten Rausch, die wildeste Nacht, den höchsten Sieg der Thekenmannschaft. Die münzgroÃe Wange der Frühgeborenen schmiegt sich an seine Haut, die fingerkuppenlangen Hände greifen in seine Brusthaare. Die Technik ringsherum läÃt die Fragilität des Körpers grell hervortreten. Noch ihr Wohlfühlen und ihre dunklen Träume zeichnet der Monitor im MaÃe von hundertstel Sekunden auf. Als er neben Nasrin Azarba saÃ, achtete er genauso konzentriert auf ihren Atem. Nasrin Azarba schlief genauso fest und hatte ebenfalls Schläuche in der Nase. Auf dem Flur unterhielt er sich nachmittags mit einem Gynäkologen über Gerechtigkeit. Sie stieÃen auf den Begriff, als er in einem weiteren pathetischen Moment das Begräbnis am Freitag erwähnte. Die Gerechtigkeit Gottes könne unmöglich so gemeint sein, daà die Schöpfung im ganzen gut sei und das Leiden einen positiven Sinn habe. Diese Erwartung sei bestenfalls naiv. Im Grundsatz der göttlichen Gerechtigkeit drücke sich der Glaube aus, daà alles Leiden aufgewogen werden würde â und sei es in einem anderen als dem eigenen Leben, in einer anderen als dieser Welt. Wenn man alles Leid zusammennehme, müsse es in irgendeinem, auch nur entfernt angemessenen Verhältnis stehen zu den Freuden, die die Schöpfung ebenfalls bereite. Zwar sei es offenkundig unhaltbar anzunehmen, daà in jedem einzelnen Leben dieses Verhältnis gegeben sei. Aber in allen Leben zusammen, sozusagen aus Sicht des Schöpfers, auf die Ewigkeit hin gerechnet müsse das Leiden in einem Verhältnis stehen zum Glück. Das müsse nicht sein, aber er müsse es glauben, um leben zu können. Daran muÃte er am Abend des 17. April 2007 gegen Viertel vor neun glauben können, um ungerechtfertigt zu vertrauen. Etwas müsse doch am Leben sein, daà wir uns über die Geburt freuen und über den Tod grämen. Sonst könne man auf dem Absatz kehrtmachen. Die Frühgeborene tut das nicht, ihr Herz schlägt, 123mal in der Minute, 145mal, 168mal, es schlägt. Der Gynäkologe brachte den Gedanken der Inkarnation ins Spiel. Er ermögliche es, die Ungerechtigkeit nicht eines Lebens, aber innerhalb des Kreislaufes zu erklären, an dem alles Leben teilhat. Ebenso könnte man das Jenseits anführen für ein Prinzip der Entsprechung, manches andere auch. Nichts davon ist sichtbar. Gesehen hat der Vater: Jemand stirbt, jemand wird geboren. Auf beiden Stationen hat man die freundlichsten Krankenschwestern und sensibelsten Ãrzte, die man sich wünschen kann, auf der Palliativstation wie im Perinatalzentrum. Auf beiden Stationen geht die Uhr anders, flüstert man eher, als daà man spricht, wird die nackte Funktionalität der Schläuche, Apparate, Monitore, Möbelstücke mehr schlecht als recht bedeckt durch das Dekor, dort das Holz, die Blumenkübel und die warmen Farben der Wände, hier die Teddybären, die auf den Steppdecken abgedruckt sind, die Herzform des Pflasters, mit dem die Magensonde auf der Wange der Frühgeborenen befestigt ist, die lustigen Aufkleber auf den Glassärgen. Beide Stationen haben ihre eigenen Riten, Ausdrücke, Tabuwörter, die man blitzschnell verinnerlicht. Im Perinatalzentrum ist »känguruhen« das Lieblingswort, »Brutkasten« dagegen verpönt. Beide Stationen weisen in eine andere Welt, sind U-Boote in die Metaphysik. Recht bedacht, ist der Mutterleib gar nicht so verschieden von den biblischen und koranischen Paradiesbeschreibungen, der Garten voller Teiche, die köstlichsten Trauben, die keine
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