Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
mögen, wie ihr Nachbar außer Rand und Band geriet, sind freilich daran zu erinnern, daß Cervantes’ Roman zugleich ein Gefühl des Bedauerns erzeugt, in einer Welt zu leben, in der Schafe nur Schafe, Ritter nur Witzfiguren sind und also auch Teeflecken nur Teeflecken. Als er nach der fieberhaften Reinigung des Schreibtisches mitsamt aller Unterlagen, des orthopädischen Bürostuhls mit dem Stoffbezug, des Fußbodens aus Sisal, des Seidenteppichs aus Isfahan sowie der eigenen Kleidung mit feuchtem Hemd zehn Minuten lang im Wind stand, weil die Frau nicht wie verabredet zur Straßenecke kam, spürte er das vertraute Ziehen im ohnehin aufgebrachten Nerv rechts neben dem Brustwirbel, das die Rückenschmerzen ankündigte und damit die Rauschmittel für den restlichen Tag, gestern außerdem Spritzen in St. Vinzenz. Der Hinweis der Frau, daß es doch nur drei Minuten seien, trug nicht zu seiner Beruhigung bei, weil die Armbanduhr, die sie ihm hinhielt, nun einmal neun Minuten Verspätung anzeigte. – Ist ja gut, ist ja gut, reg dich doch nicht über die paar Minuten auf. – Ich rege mich nicht auf. – Natürlich regst du dich auf. – Wenn du behauptest, es waren keine zehn Minuten, anstatt einfach Entschuldigung zu sagen oder wenigstens nichts zu sagen, rege ich mich eben auf. – Nur wegen drei … und so weiter, bis der Mann ungelogen fünfmal darauf beharrt hatte, daß es zehn Minuten gewesen seien, obwohl es genau gesagt neun waren, doch das ist eine andere literarische Tradition.
    Die Beobachtungen im Perinatalzentrum trösten über die Debatten unter Intellektuellen hinweg, von denen auch die Reporterin gerade wieder so deprimiert sei, daß sie nur noch flüstern möchte. Alles auf der Station ist dort so ausgerichtet, daß auch die Väter Zeit mit dem Baby verbringen, es känguruhen , wickeln und versorgen. Es wird nicht eigens verlangt oder formuliert, sondern ist schon vor der Geburt vorgesehen, wenn die Väter kaum ernsthaft gefragt werden, ob sie dabeisein wollen, weil es sich von selbst versteht, und dann vom ersten Tag an, wenn im Elterngespräch über die anstehenden Wochen selbstverständlich davon ausgegangen wird, daß Väter und Mütter sich am Inkubator abwechseln. Wer am tradierten Rollenverständnis festhielte, wäre bei den Frühgeborenen ein Sonderfall. Obwohl die Hälfte der Familien, die sie täglich treffen, nicht aus Deutschland stammt, fügen sich ausnahmslos alle Väter in ein Vaterbild, das auch den deutschen Großvätern vollkommen fremd gewesen wäre. Es ist offensichtlich, daß die türkischen, albanischen oder arabischen Väter die Nähe zu ihren Kindern genießen. Inbrünstig känguruhen, wickeln, streicheln und liebkosen sie, als sei es das Gewöhnlichste der Welt, mag die Gattin ein Tuch über dem Kopf tragen oder nicht. Der iranische Vater bewundert die Kraft dieser Gesellschaft, die Neuankömmlinge in ihrem Sinne verändert, indem sie sich von ihrer besten Seite zeigt. Es dürfte auch keinen Ort geben in Deutschland, an dem Menschen so konsequent gleich behandelt werden wie auf einer Intensivstation, zumal wenn keiner der Patienten mehr als zwei Kilo wiegt. Daß viele Krankenschwestern und manche Ärzte ebenfalls fremder Herkunft sind und deshalb die Unterweisungen in der Säuglingspflege auch auf türkisch oder persisch erfolgen, verstärkt noch den Eindruck des Egalitären. Der iranische Vater glaubt wirklich, daß sich die türkischen, albanischen oder arabischen Eltern nach den Wochen im Perinatalzentrum auf neue Art zugehörig fühlen zu Deutschland. An sich glaubt er an den Fortschritt sowenig wie Martin Mosebach, aber im einzelnen dann doch. Ein Podium, auf dem nur geflüstert werden dürfte, wäre auch schon mal was.
    In den Briefen an die Mutter geht es bald nur noch ums Geld, floskelhaft bis hin zum Hohn das Kondolenzschreiben an die Schwester, deren Mann gestorben ist: »Kann ich dir etwas seyn, so brauchst du es nur zu sagen«, beteuert Hölderlin, um im nächsten Satz seine Geschäfte zu erwähnen, »die gerade jetzt etwas dringender sind« – als ob es noch Geschäfte für ihn gäbe. Trost soll ausgerechnet »die Gesellschaft und Unterstützung unserer guten Mutter« sein, dieser Pfennigfuchserin, die sich in keinem einzigen Brief zufrieden über ihre Kinder äußert und

Weitere Kostenlose Bücher