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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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beim Bildhauer in München noch zuwachsen soll, mit zweiundsiebzig und dieser Liebe wie im Märchen.
    Martin Mosebach glaubt an den Roman, sein jüngerer Kollege nicht. Martin Mosebach liebt an Doderer das Ganze, der jüngere Kollege das einzelne. An den Romanen, den wirklichen Romanen, die seit Proust geschrieben werden, interessieren mich die Details, diese Beschreibung, jener Mensch, diese Begegnung, jenes Drama. Groß finde ich selten das Große, auch nicht bei Mosebach, der seinerseits überraschte, indem er die kürzeren Texte Doderers als Fingerübungen abtat. Es mögen Fingerübungen sein, ja; für mich sind sie, was heute Gültigkeit beansprucht. Deshalb gefallen mir unter den Gedichten Hölderlins oft die Entwürfe, die aus wenigen Wörtern bestehen, auf die ganze Seite verteilt, mir gefallen die Lücken. Natürlich entstehen die Lücken erst durch die Wörter, die sie begrenzen. Mir gefällt es, wie der Herausgeber das Werk Hölderlins in seinem Fragmentarischen, Verstreuten erschließt, mir gefallen die immer neuen Anläufe. Es sind keine Verbesserungen. In seinen sich widersprechenden Varianten ist es der Originaltext. Als Ubayy ibn Kaab in der Moschee zwei Muslime traf, die den Koran jeweils verschieden rezitierten, brachte er beide zum Propheten. Der Prophet erklärte beide Fassungen für rechtens und ebenso die Fassung Ubayys. Ubayy geriet in Angst, weil er um seine Reputation als Koranrezitator fürchtete. Der Prophet aber erklärte, daß Gabriel ihm ursprünglich den Befehl Gottes überbracht habe, den Koran nur auf eine Weise zu rezitieren: Der Prophet fragte, ob es dem Erzengel nicht möglich sei, bei Gott um eine Erleichterung zu suchen. Als der Erzengel wieder zum Propheten kam, überbrachte er den Befehl, den Koran auf zwei Weisen vorzutragen. Wieder entschuldigte sich der Prophet, wies auf die Schwierigkeiten hin und bat den Erzengel, bei Gott um eine Erleichterung nachzusuchen. Dieser Vorgang wiederholte sich, als der Erzengel zum dritten und vierten Male zum Propheten kam; auch die Beschränkung auf drei oder vier Weisen der Rezitation hielt der Prophet für nicht praktikabel. Schließlich kehrte der Erzengel zurück und sagte: »Gott hat dir befohlen, den Koran auf sieben Weisen zu rezitieren [sieben als Unendlichkeitsziffer, ist sich die islamische Tradition einig]. Auf welche Weise sie auch lesen, sie gehen recht dabei.« Auch der Koran ist voller Ellipsen, Wiederholungen, ohne Stringenz, ein wildes Durcheinander, weshalb ihn Joyce so bewunderte. Mir gefällt es, wie Heimito von Doderer tausend Seiten schreibt, um dennoch ganze Existenzen in einem einzigen Absatz abzuhandeln, in einundzwanzig Zeilen etwa Lebenslauf und Charakter der Sekretärin Emma Drobil auf Seite achtundzwanzig der Dämonen . Mir gefällt auch die Stelle gegen Ende, die Mosebach im Salon vortrug, der Brand in Frau Mayrinkers Küche. Für ihn ist das Großartige der Zusammenhang, in dem diese Episode mit dem Brand des Wiener Justizpalastes steht, wie das Kleine ins Große greift und umgekehrt. Für mich ist es vor allem ein Brand in Frau Mayrinkers Küche. Mir wäre es genauso recht, wenn die rötliche Verfärbung des Himmels, die sie beim Herausgehen bemerkt, im Roman weiter keine Rolle spielte. Für Mosebach ist genau das der Clou, weshalb er unter allen möglichen und publikumstauglicheren Stellen gerade diese ausgewählt hatte. Gleichwohl trafen wir uns an einem Punkt. Die Frau Mayrinker, von der Doderer so eindrücklich erzählt, daß sie uns wie eine Vertraute erscheint, taucht weder auf den vorangegangenen tausendzweihundertfünfzig Seiten auf noch auf den restlichen hundert. Sie ist kompositorisch ein Unding, wie so vieles in den Dämonen . Bei Martin Mosebach hat der sprachliche Gestus genau wie bei Doderer etwas von einem Zitat – niemand spricht mehr so, höchstens die Altmodischen –, nimmt er gerade diejenigen Wendungen willentlich auf, die der Duden als veraltet brandmarkt, und gerät zugleich die Form immer wieder völlig aus der Fassung. Figuren wie das Ehepaar Kn. in der Langen Nacht werden kurz vor Ende der Geschichte eingeführt, ausführlich beschrieben, nur um urplötzlich wieder abzutreten und bis zum Ende des Buches nicht mehr in Erscheinung zu treten. Und dann die Konstruktion seiner Romane, im Beben etwa das Erscheinen der Frankfurter Geliebten ausgerechnet

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