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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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über Hölderlins Dichtung schon gar nicht. Suzette schreibt, wann welches Zeichen welche Bedeutung haben würde. Die weiße Fahne zum Beispiel würde heißen: Verschwinde sofort, es ist gefährlich. Überhaupt in der Nähe ihres Hauses stehenzubleiben, sei nicht ratsam. Aus dem Fenster kann sie die Briefe nicht mehr werfen. Sie versteckt sie, und Hölderlin soll sie an der vereinbarten Stelle wohl im Vorübergehen auflesen (auflesen ist mal ein passendes Wort). »Wäre es aber möglich gewesen, ich hätte seither sicher alle Wochen wenigstens einmal geschrieben«, versichert er im September 1800 der Schwester, die nicht so dumm sein kann, dem Schein bürgerlichen Lebens und Anstands zu glauben, den seine Briefe noch immer herzustellen versuchen, und da ist er bereits mit gestrecktem Bein überm Abgrund, Brust raus, Bauch rein, wie auf dem Paradeplatz. Nicht mehr nur öd, kaum erträglich ist die Beseeltheit, die er in die Gedichte legt. »Denn voll göttlichen Sinns ist alles Leben geworden, / Und vollendend, wie sonst, erscheinst du wieder den Kindern / Überall, o Natur! und, wie vom Quellengebirg, rinnt / Seegen von da und dort in die keimende Seele dem Volke.« O Freuden Athens, o Thaten in Sparta, köstlich ist die Frühlingszeit im Griechenlande. Nur ein Gedicht danach, noch im selben September 1800 mit dem Entwurf der »Elegie«, hebt Hölderlins Poesie plötzlich ins zwanzigste Jahrhundert ab: »Tage kommen und gehen, ein Jahr verdränget das andere, / Wechselnd und streitend; so tost furchtbar vorüber die Zeit / Über sterblichem Haupt, doch nicht vor seeligen Augen, / Und den Liebenden ist anderes Leben gewährt«, und kehrt Hölderlin zugleich ins siebte persische Jahrhundert nach der Hidschra zurück: »Ach! wo bist du, Liebende, nun? Sie haben mein Auge / Mir genommen, mein Herz hab’ ich verloren mit ihr. / Darum irr’ ich umher, und wohl, wie die Schatten, so mußt ich / Leben und sinnlos dünkt lange das Übrige mir. / Danken möchte’ ich, aber wofür? verzehret das Lezte / Selbst die / Erinnerung nicht? nimmt von der Lippe nicht / Bessere Rede mir der Schmerz, und lähmet ein Fluch nicht / Mir die Sehnen und wirft, wo ich beginne, mich weg?« Mag der Rausch des Lesers, der wegen seines vielfach schon beklagten Rückenleidens auf Opiate angewiesen ist, nicht nur lyrische Gründe haben, glaube ich für mich sagen zu können, daß mir die deutsche Sprache nirgends so schön, so beseelt erschien wie in der Elegie, die einen Entwurf später »Menons Klage um Diotima« heißt, weil es das Wort eines Hinterbliebenen ist, die Vergegenwärtigung einer Dahingeschiedenen, das Bewahren eines notwendig Flüchtigen. Das ach! klingt hier zum ersten und vielleicht einzigen Mal in der deutschen Sprache wie das ay! bei den spanischen Dichtern oder das ey! von Hafis und Rumi: »So zerrann mein Leben, ach! so ists anders geworden, / Seit o Lieb, wir einst giengen am ruhigen Strom.« Längst ist die Wirkung des Rauschmittels vergangen, da lese ich ein ums andere Mal laut das Gedicht in seinen sehr unterschiedlichen Varianten, das mit ruhig berückendem Rhythmus, fremder, traurigster Melodie einen ganz anderen, nicht mehr den hohen Hölderlinschen Ton hat, der mich enervierte, so unmittelbar, so direkt, als säße jemand vor mir und sänge leise, was ihn bedrängt, was er fürchtet, wo er beharrt, hat endlich genug von Thaten in Sparta, will nicht mehr nach Athen ziehen, spricht es aus in den einfachsten Worten, die ihm jedoch, weil er ein Dichter ist, für immer ein Dichter, zum rätselhaften, verzaubernden Gesang geraten, der viel mehr ausdrückt als diese oder jene, seine oder meine Sehnsucht, nämlich alle Sehnsucht des Menschen mit der Schwerkraft von Sachzwängen, Vernunfterwägungen, Mutlosigkeit, aber Augen in Richtung des Himmels, den er ein paar Tage lang in Suzette Gontard fand, die Länge eines Fingers, einer Zunge, seines Geschlechts tief, um genau zu sein, als sie »fühlten den eigenen Gott / … Ganz in Frieden mit uns kindlich und freudig allein«. Der letzte Brief von ihr oder an sie war vom Mai, glaube ich, Mai 1800. Im September müßte er längst fortgelaufen oder vertrieben worden sein, je nachdem, wie er es an einem Tag gerade empfindet. Er ist es schon. Hat sich in Kindersprache verabschiedet von seiner Liebe, mit

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