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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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versteckten Zettelchen und husch husch husch ich steh im Gebüsch wo ist sie denn wieso sieht sie mich nicht? Wo ist er überhaupt? Noch in Stuttgart? Bei wem? »Daß ich fühllos size den Tag und stumm, wie die Kinder, / Nur vom Auge mir kalt öfters die Tropfe noch schleicht« – das ist Friedrich Hölderlin Ende September 1800, nicht der Dichter, der nichts vom Leben wissen wollte in seiner Dichtung. Ab Oktober entstehen Elegien in je mehreren Varianten, acht Stück schließlich in der Stuttgarter Reinfassung vom 11. Dezember 1800, sechs in der Reinschrift, die 21 Jahre später Prinzessin Auguste erstellt, die ihm wie andere Frauen halb anbetend, halb mitleidig zugetan ist. Der Schlußsatz des »Blinden Sängers«, das zunächst »Täglich Gebet« hieß, bleibt in allen Fassungen gleich: »O nimmt, daß ichs ertrage mir das / Leben, das göttliche, mir von Herzen.«
    52 Zentimeter groß und 4180 Gramm schwer kam Hanna-Zoe gestern um 17:44 Uhr zur Welt. Der Nachbar findet die Nachricht auf dem Handy vor, das er in der Mittagspause von dem Iraner gegenüber auslieh, bevor er beim blonden Syrer Suppe aß. Der Iraner gegenüber handelt mit Handys, der Iraner nebenan, der vor der Revolution Regisseur beim Staatsfernsehen war, mit Tee, Reis, Nüssen, Süßigkeiten, Marmelade, Sirup, Gewürzen, getrockneten Limonen und dergleichen Waren aus der Heimat, die er seit bald dreißig Jahren nicht mehr gesehen. Der türkische Supermarkt im Erdgeschoß des Büros, das keine Wohnung wurde, verkauft Lebensmittel zu unschlagbaren Preisen, für die allerdings die Nachbarn mit dem Lärm des Kundenparkplatzes zahlen (am lautesten ist freilich der deutsche Hausmeister, wenn er sich mehrmals täglich über die Falschparker aufregt). Wenn der Nachbar die Ältere von der Schule abholt, gehen sie meistens zu einem der Türken, die mehr als nur einen Mittagstisch, Suppe und Pide anbieten; ißt er allein, bevorzugt er den blonden Syrer, der ihn außer mit Suppen auch mit Respekt versorgt. Maschâ’allah , er schreibt Bücher!, »was Gott alles will«, und schon sind die drei Euro fünfzig für Linsensuppe und Ayran bezahlt, ohne daß der Nachbar eingreifen konnte. Seit er von den Büchern erfahren hat, begrüßt er den Nachbar auch abends mit Handschlag, wenn der gar nichts essen möchte, sondern in die Kneipe rechts neben dem Imbiß, die der Syrer während der Fußballübertragung mit Pide beliefert. Linker Hand liegt der deutsch-türkische Kiosk, der montags die Lokalzeitung für den Nachbar bereithält und täglich die überregionale für den Fall, daß ein Schuft sie wieder aus dem Hauseingang geklaut. Es schließen sich an: der türkische Friseursalon, weitere Kioske, türkische Hochzeitsmoden, türkische Schmuckgeschäfte, deutscher Herrenfriseur und deutsches Modelleisenbahngeschäft, eine türkische Bedarfs- und eine türkische Edelmetzgerei, asiatische Einrichtungsgegenstände, türkischer Gemüsehändler und was noch alles dazu führt, daß nach einem Bericht der Lokalzeitung nirgends in Köln so oft gefilmt wird wie in ihrer Gasse, und was den Nachbarn wiederum regelmäßig nach Ossendorf zum Abschleppdienst führt, wenn die Filmteams über Nacht Halteverbotsschilder aufgestellt haben. Recht betrachtet, ist die Gasse bis hin zum Carrera-Bart des Antiquitätenhändlers genau so, wie er sie in einem Kinderbuch beschrieb, nur daß Frau Özturk anders heißt und von einer Istanbuler Konditoreikette vertrieben wurde. Auch hat der Nachbar noch nie jemanden im Laden des Geigenbauers tanzen sehen. Dafür bieten alle vier Teehäuser Kölsch und türkisches Bier, so daß man auch den Seniorchef der Pizzeria mit Arak vor dem Brettspiel sieht, und hat die Gasse ein paar ziemlich coole Läden, die der Nachbar im Kinderbuch nicht erwähnt, weil sie für Kinder nicht so interessant sind, genau gesagt ein Café mit ebenfalls sehr guten Suppen und zwei Boutiquen mit selbstentworfener Mode, die nach Berlin-Friedrichshain aussieht, scheußlich eigentlich, aber eben auch sehr cool, sie vor der Haustür zu haben, zumal die Besitzerinnen alles andere als scheußlich sind. Den genauen Charakter seiner Gasse und inwiefern es sich darin wie im Orient anfühlt, kann er nur so erklären: Wenn er einmal etwas braucht, zum Beispiel am Samstag

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