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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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zu dürfen«. Während Neuffer Hölderlin bereits schreibt, daß dessen Tanzpartnerin Lotte Stäudlin »sich mannigmal bei mir nach Dir erkundigt«, schreibt Hölderlin an Neuffer noch von seiner Bekanntschaft mit Elise Lebret, von der sich wieder zu trennen ihm später zu mühselig ist, so daß er es von der Mutter ausrichten läßt: »sagen Sie, was Sie vielleicht schon gesagt haben, ich sei verreist, und schreibe nicht«. Und dann ist da bekanntlich noch – alles in den wenigen Jahren vor Suzette Gontard – Wilhelmine Knirps in Waltershausen, die ein uneheliches Kind zur Welt bringt, nachdem Hölderlin Waltershausen »auf die ruhigste delikateste Weise verlassen hat«, wie seine Gönnerin Charlotte von Kalb verständnisvoll erwähnt. Nein, Hyperion mag in seiner Erregung immerzu Himmlisch! und Göttlich! stammeln, Hölderlin hingegen scheint sehr genau gewußt zu haben, daß Erregung Sex ist, Angst, Zweifel, Herzpochen, steifer Schwanz und feuchte Möse. Wo Hyperion ewige Freude will, war Hölderlin glücklich, sich auch ein wenig freuen zu dürfen.
    Zu den Besonderheiten der Amerikanischen Schule gehörten Debattierclubs, in denen die Schüler von der neunten Klasse aufwärts zweimal die Woche über Bücher und politische Grundsatzfragen wie »Stift oder Schwert – was hat der Menschheit mehr gedient?« oder »Die Möglichkeit des weltweiten Friedens« debattierten. Wie im britischen Club ging es dort zu: In geheimer Wahl ermittelten die Schüler den Vorsitzenden, dessen Stellvertreter und den Protokollanten. In der Funktion des »Kritikers« nahm außerdem ein Lehrer teil, der die Diskussionsbeiträge einer inhaltlichen wie rhetorischen Analyse unterzog, auf Schwächen hinwies und Stärken hervorhob. Hatten sich die Schüler auf ein Thema geeinigt, wählte der Vorsitzende zwei Kameraden aus, die in der darauffolgenden Woche konträre Positionen vertraten. Manchmal bestimmte der Vorsitzende die Anwälte auch ad hoc, so daß sie ihr Plädoyer ohne Vorbereitung halten mußten – auf englisch!, wie Großvater nach einem Gedankenstrich stöhnt. Ohne daß er es eigens erwähnt, scheint klar, daß er zu den stillen, zurückhaltenden Schülern gehörte, die besonders häufig spontan vortragen mußten. Sein Entsetzen läßt sich ausmalen. Selbst ein deutscher Neuntkläßler von heute täte sich schwer, vor Oberstufenschülern eine englische Rede über Krieg und Frieden in der Welt zu improvisieren, und Großvater war gerade erst in Teheran eingetroffen und wird es schon mühsam genug gefunden haben, dem Unterricht in der fremden Sprache zu folgen. Noch sein vorletzter Englischlehrer, Herr Zanyani an der Eslamiye-Schule in Isfahan, hatte den Unterricht aufs Vokabellernen beschränkt, weil er keinen englischen Satz zustande brachte, und auch der Unterricht an der Aliye-Schule war kein Intensivkurs gewesen, wie sich auf der Reise mit Mister Allanson nach Teheran erwies. An solchen Stellen könnte ein Roman einsetzen, der vielleicht gelesen würde: Der vorsitzende Schüler ruft den Kameraden aus Isfahan auf, das Plädoyer für oder gegen den Pazifismus zu halten. Der Junge bringt vor Aufregung kein Wort über die Lippen. Im Roman, den ich schreibe, lasse ich die Gelegenheit genauso verstreichen wie Großvater in seiner Selberlebensbeschreibung. In seiner ewigen Jeans, für die er eigentlich zu alt ist, und der schwarzen Lederjacke, die zu seinen grauen Haaren und dem Seitenscheitel ebensowenig passen, läuft der Hausmeister über den Hof, zufrieden mit dem riesigen Schild in Blau und Rot, das der türkische Supermarkt angebracht hat: »Parken nur für Kunden. Höchstdauer 30 Minuten. Fremdparker werden abgeschleppt.« Wie lang der Hausmeister dafür gestritten haben mag? Das hat ihn schon gefreut, merkt der Enkel, der von oben alles sieht, den Hof mit den Parkplätzen und dem Baum in der Mitte, links die Balkone, gegenüber die fensterlose Häuserwand mit dem neuen Schild, rechts die mannshohe Mauer, hinter denen Gärten zu liegen scheinen. Jetzt muß der Hausmeister nur noch die Uhr im Blick haben, einen Zettel und das Telefon, dann werden sich seine täglichen Wutattacken um mindestens die Hälfte reduzieren. Die Kunden lassen ihren Wagen hinterm türkischen Supermarkt stehen, um ihre übrigen Besorgungen zu

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