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himmlische Erscheinung erwartet wurde â das herrlichste Feuerwerk, das mit Silvesterböllern nichts zu tun hat, mächtige weiÃe, blaue und rote, funkelnde und schweifende, streng geordnete und chaotische Lichtformationen, die weit höher anfangen als der Dom und die wohlbekannte Silhouette der Stadt verzaubern, wie er es nur für die Wirklichkeit von Kindern für möglich gehalten hätte, an Silvester oder Weihnachen oder wenn der Neuschnee in der Rush-hour alle Autos zum Schleichen zwingt. So ist es denn auch die Frau, die bemerkt, daà die Ãltere im Pyjama auf der Terrasse steht. Er erlaubt ihr, aufs Dach zu steigen, obwohl es von drei Seiten fünf Altbaugeschosse in die Tiefe geht. Die Ãltere flitzt die Leiter hoch in seine Arme. Lange geht das Feuerwerk, viel länger als an Silvester. Bei jedem neuen Höhepunkt zischen die Ãltere und der Vater Luft durch die Zähne oder deuten sie begeistert die bunten beweglichen Bilder im Himmel. Sie hält seine Hand fest, er die Frau im Arm. In der Wiege schläft die Frühgeborene, wie sie sich in den Pausen zwischen zwei Feuerwerksfolgen versichern. Eine Trauerweide, hilft die Frau der Ãlteren aus, die nach dem Baum suchte, an den sie die herabfallenden Lichter erinnern.
Nach dem Frühstück fing er an, das Ritualgebet zu erlernen, die salât oder persisch das namâz . Die wesentlichen Texte und Abläufe sind ihm bekannt, hinter oder neben anderen hat er schon häufig gebetet. Aber allein zu beten, so daà man die Texte und Abläufe ohne nachzudenken selbst abspulen muÃ, ist anders. Man kommt schnell durcheinander. Er ist daher, als er einsah, beten zu müssen, weil er weder schreiben noch lesen konnte, zu den Vermietern der Scheune gegangen, um aus dem Internet eine Gebetsanleitung auf den Laptop zu laden. Man wird selbst mit der Analogleitung rasch fündig, tippt »Islamisches Gebet« in die Suchmaschine und kann schon den ersten Link gebrauchen. Da er den Laptop schlecht mit ans Waschbecken nehmen konnte, notierte er sich die neun Abschnitte der rituellen Waschung, des wozuh , am Rande des Feuilletons, das er unter der Ablage aus einer Kiste mit Altpapier nahm. Claus Peymann inszeniert Peter Handkes Spuren der Verirrten am Berliner Ensemble, was man auch nicht gesehen haben muÃ. Die Waschung hatte er schon oft vollzogen, muÃte nur die Reihenfolge der Körperteile sich merken, was keine Viertelstunde dauerte. AnschlieÃend breitete er die gelbe Vliesdecke, auf der die Frau morgens Gymnastik treibt, neben dem Schreibtisch aus, richtete den Bildschirm so ein, daà er die Gebetsanleitung aus einem Meter Entfernung lesen konnte, stellte sich in Richtung Mekka auf das sozusagen goldene Vlies und betete. Dem Sohn, der immer wieder neben sich auf den Laptop blickte, sich auch mal verhaspelte und deshalb ein Gebet neu aufsagen oder die Verbeugung wiederholen muÃte, gelang es nur sehr eingeschränkt, »seine Verbindung zur AuÃenwelt« abzubrechen und »sich nun in Gedanken vor Allah (t)« zu befinden, wie es die Gebetsanleitung vom Gläubigen verlangt. Im Sinne der Rechtsschulen war sein Gebet sicher nicht gültig, obwohl auch sie, andererseits, die gute Absicht honorieren und sein Bemühen daher kaum tadeln würden. Ihm half es am Morgen, er will nicht sagen: es befriedete, aber, nein, abgelenkt kann er es auch nicht nennen, das wäre zu schwach, ihm hat das Gebet ermöglicht, diesen Absatz zu beginnen, statt weiter die Scheune wie ein Tier im Käfig auf und ab zu gehen. Wann er wieder zu beten aufhört, gehört nicht zum Gelübde. Er mag die Worte, ihren Klang, die Melodie der Reime genauso wie die Bedeutung, er mag die Bewegungen. Es könnte eine Befreiung sein, sich am Tag einige Mal zu verbeugen, sich niederzuwerfen auf die Stirn â und dann wieder aufrecht zu stehen. Wenn seit vierzehnhundert Jahren Menschen ebendiese Verse in eben dieser Abfolge von Körperhaltungen täglich fünfmal aufsagen, muà ein Segen darin wohnen. Ob es Gott gibt, steht auf einem anderen Blatt. Nicht um Ihn ist es den Religionen zu tun, von dem sie ohnehin nur Namen aussprechen, vielmehr um die Menschen, deren Handlungen mit oder ohne Gott genauso gut oder schlecht, richtig oder falsch, sinnvoll oder unnütz sind â sofern es ohne Gott gut oder schlecht gibt, richtig oder falsch, sinnvoll oder unnütz. Mit oder ohne Gott fing er heute morgen mit dem Gebet
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