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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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der Vorwahl bemerkte er, daß es nicht das Herzzentrum sein konnte, aber innerhalb der Sekunde oder der zwei Sekunden, die es dauert, bis der Anrufer sich vorstellt, spielt man dennoch alle Möglichkeiten durch, eine Rufumleitung vielleicht oder der Vater mit dem Hubschrauber in eine andere Spezialklinik verlegt? So schwer es fiel, ist der Sohn halbwegs höflich geblieben. Im Herzzentrum vermieden sie gestern abend alle Andeutungen, daß sie sich zum letzten Mal gesehen haben könnten, vermieden es so auffällig, daß dennoch alle sahen, daß auch die anderen an die Möglichkeit dachten. Der Vater schien zum Abschied bereit, ob er auch das Wort vermied, pries in allmählich ansteckender Heiterkeit Gott und seine Familie für alles, was sie ihm geschenkt, und fragte die Söhne, mit welchem Recht er mehr verlangen könne. Um halb neun schickte die Krankenschwester die Angehörigen aus dem Zimmer, weil sie die letzten Vorkehrungen treffen mußte, rasiert war der Vater schon, also auch am Körper, vor dem Nachtgebet, das er im Laufzettel eintragen ließ, stand noch der Einlauf aus, nach dem Gebet die Schlaftabletten, um zehn vor sieben würden sie ihn morgen früh abholen, also heute. Es ist 12:06 Uhr: Fährt der Sohn noch hinunter ins Dorf, um Brot, Obst und einen Liter Milch zu kaufen? Alles andere hat er, um sich bis Samstag zu versorgen. Oder wartet er, bis er angerufen wird? Je nachdem, braucht er ohnehin kein Brot. Der Raum, in dem er sitzt, die Landschaft mit Kühen, auf die er blickt, fühlen sich an, als könne er sie jederzeit ausknipsen. Es ist der gleiche Platz, der gleiche Blick, der gestern um die Zeit noch wirklich war. Davon soll der Roman, den ich schreibe, ja erzählen wie alle Romantik: wie die Wirklichkeit einfach ausgeknipst werden kann und man dadurch erst ihre Helligkeit begreift. In der japanischen Ästhetik von früher, in der es ebenfalls um Relationen gehe, vertrüge sich das strahlende Weiß der Zähne nicht mit der Dunkelheit der Mundhöhle und nähme es dem Gesicht von seinem hellgepuderten Schein. Der Sohn will nicht aus dem Herzzentrum angerufen werden, wenn er gerade in der Bäckerei oder im Supermarkt steht. Andererseits kann er nicht einfach warten, also nichts tun außer sitzen oder auf und ab gehen. Am ehesten würde noch eine gewöhnliche Arbeit unter Menschen ablenken, länger als das Gebet. Am schnellsten ging die Zeit vorüber, die er für diesen Absatz brauchte, jetzt schon 12:12 Uhr. Freilich verbraucht sich das Schreiben ebenfalls, wie er gerade feststellt, weil der Absatz länger nicht geht. Wenn er bereits vom Vater schriebe, käme es ihm vor, als rechnete er mit dessen Tod. Vielleicht fährt er doch Brot kaufen.
    Beinah pünktlich um 14:30 Uhr der Anruf: Der Vater verliert Blut. Wenn sein Herz nicht aufhört zu bluten, muß der Brustkorb ein zweites Mal aufgeschnitten werden. Oder was heißt aufgeschnitten: aufgebrochen werden, aufgesägt doch wohl. Auf der Autobahn ruft die Redakteurin eines multikulturellen Senders an, die bereits am Vormittag alle Vorurteile des Sohnes gegen Negerradios bestätigte. Er bekräftigt, daß er wie alles andere auch das morgige Interview absagen müsse, da sein Vater am Herzen operiert worden sei, es Komplikationen gebe und er gerade zur Klinik führe, es sei ernst. Das tue ihr leid, aber das Interview … – Entschuldigung, es ist ernst, ich kann kein Interview geben! Sie verstehe seine Situation, aber er müsse auch sie verstehen, die Sendung … Da schneidet er ihr das Wort erneut ab, allerdings mit einem Hinweis, den er noch innerhalb des Satzes bereut: Entschuldigung, mein Vater liegt im Sterben. Er hat es ausgesprochen. Er hat ausgesprochen und nicht nur gedacht, daß der Vater sterben könnte, schlimmer: sterben wird, und das nur, um ein Telefongespräch zu beenden, er hat es ausgesprochen, die Ankündigung sitzt im Auto nun neben ihm und fährt mit zum Herzzentrum. Der Nachsatz, mit dem der Sohn ohne Verabschiedung auflegt, ist in Ordnung: Hiermit beende ich das Gespräch, nur daß er sich weniger gegen die Redakteurin richtet als gegen ihn selbst, der ein solcher Tor war, überhaupt ans Telefon zu gehen – eine Berliner Nummer auf dem Display konnte mit dem Vater nichts zu tun haben – und dann auch noch zu allem Überfluß das Wort sterben freizugeben, nicht daß er mit den Brüdern und der

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