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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Frau heute nicht über die Möglichkeit des Todes sprechen würde, aber so, gegenüber dieser unmöglichen Person, ist es eine Entweihung. Im nächsten Telefonat bei Tempo 200 im auch nicht mehr jugendlichen BMW erklärt ihm der Internist, der bereits im Herzzentrum eingetroffen ist, wie es steht: Wenn die Blutung nicht in den nächsten ein, zwei Stunden aufhöre, müßten die Kardiologen in der nicht einmal großen Hoffnung, eine blutende Wunde vorzufinden, den Brustkorb ein zweites Mal öffnen. Sollte sich die Blutung, was wahrscheinlicher sei, als »diffus« erweisen, könnten sie nichts anderes tun, als den Brustkorb auszutamponieren. Die Gefahr dabei sei, daß … und so weiter, es sind vier, fünf, sechs mögliche Komplikationen, die der Internist aufzählt. Als der Jüngste einen Parkplatz sucht, liest er die Mutter auf, die die Straße vor dem Herzzentrum auf und ab geht. Das Auf-und-ab-Gehen werden sie an diesem Tag noch häufig praktizieren, in Choreographien zu zweit oder zu dritt, erst auf größerem, den Abend über auf kleinem Raum. Sie treffen den Internisten in der Eingangshalle und klingeln an der Intensivstation. Sie warten. Die Nachrichten, die der Kardiologe dem Internisten überbringt, sind nicht schlecht, wie der Jüngste aus dem Fachgespräch heraushört. Die Blutung hat nachgelassen, minimal zwar, unverständliche Zahlenreihen, gute Zahlen, böse Zahlen, x wäre ein Durchbruch, y ist zuwenig, doch will man die Entwicklung zunächst ein, zwei weitere Stunden beobachten, bevor man den Brustkorb des Vaters tatsächlich ein zweites Mal aufbricht. Ein, zwei Stunden später hat sich die Zahlenreihe ein weiteres minimales Stück Richtung x bewegt, weshalb man die Operation weiter hinauszögert. Selbst der Internist kann nun nicht mehr anders, als nach dem Stöckchen Optimismus zu schnappen, das ihnen aus der elektrischen Schwingtür der Intensivstation gereicht wird. Die Brüder beschließen, daß der Jüngste mit der Mutter in den Kurort geht, um die Utensilien für die Nacht zu besorgen. Anschließend würde er die Bewachung der Schwingtür übernehmen, damit der Internist etwas ißt. Als die Mutter es schon aufgegeben hat, entdeckt der Jüngste einen Supermarkt, der um halb acht noch Zahnbürste, T- Shirt, Schokoriegel und dergleichen verkauft. Niemand hat Hunger, aber es kann eine lange Nacht werden, erklärt er der Mutter, nichts wüßten sie über den Morgen, man müsse sich vorbereiten und mit den Kräften haushalten. Man kann mit der Mutter nicht essen gehen, man landet zwingend im falschen Restaurant, sie erwischt automatisch das falsche Essen, und zu teuer ist ohnehin alles, was nicht All-you-can-eat ist, so daß der Jüngste sich freut, in der leergefegten Fußgängerzone einen asiatischen Imbiß zu entdecken, bei dem die Mutter sich wenigstens nicht über den Preis ärgert. Natürlich ärgert er sich darüber, daß sie das billigste Essen aussucht, 4,90 Euro. Er bestellt für die Mutter dennoch knuspriges Hühnchen mit pikanter Soße für 5,50 Euro, weil er sicher ist, daß es ihr besser schmeckt als süß-sauer. Ungeachtet ihres Einspruchs, nicht durstig zu sein, nimmt er außerdem ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank vor der Verkaufstheke. Nein, nicht das Wasser, gibt sie ihren Widerstand auf, wenn schon, bring mir eine Fanta. Gerade als der Chinese ihnen das Essen an den Stehtisch bringt – der Jüngste ist seiner Empfehlung gefolgt, Rindfleisch Sezuan für 6,50 Euro, dazu das Pils aus dem Taunus, weil er grundsätzlich Produkte aus der Region bevorzugt –, ruft der Internist endlich zurück, den der Jüngste vorhin nicht erreicht hat: Die Brust des Vaters muß geöffnet werden. Was gerade noch fehlte: Die beiden Operationsräume sind besetzt. – Wie, die sind besetzt? Ja, die sind besetzt, ganz einfach, mehr als zwei Operationsräume hat nicht einmal das Herzzentrum. Die Öffnung der Brust verschiebt sich also weiter, aber nicht mehr wegen x. Notfalls operieren sie auf der Intensivstation, das wäre ungünstig. Wo seid ihr? fragt der Internist, der vor der elektronischen Schwingtür nichts mehr tun kann. Die Mutter, die zusah, wie der Jüngste telefonierte und auf persisch immer wieder schrie was ist denn?, was ist denn?, bringt den Teller sofort zur Theke, um sich das Essen einpacken zu

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