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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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führte er die Brüder nochmals zum Vater, der mit weitgeöffnetem Mund und darin drei Schläuchen ruhig und regelmäßig atmete, die Gesichtszüge unendlich entspannt, auf dem Leib die silberne Decke, die schwankt und glitzert wie sonniges Meer. Minuten betrachteten sie den Vater, nur der Chef des Herzzentrums und der Internist flüsterten sich hier und dort etwas zu. Dieser Frieden ist zugleich so wunderschön, dachte der Jüngste, und so grauenvoll: Mein Vater ist jetzt auch ein Engel. »Denn weil die Seligsten nicht fühlen von selbst, / Muß wohl, wenn solches zu sagen / Erlaubt ist, in der Götter Namen / Teilnehmend fühlen ein andrer.« Sie, wenn es Sie im Roman, den ich schreibe, je großgeschrieben gibt, Sie haben den Vorteil, daß Sie einfach umblättern oder Gott verhüte daran, daß mit dem nächsten Absatz ein neues Kapitel beginnt, in zwei, drei Zeilen womöglich – daß Sie bereits erkennen können, was bestimmt ist. Der Sohn hingegen weiß nichts. Gestern war er am Ende, heute lebt der Vater doch weiter. Und morgen? Schon die Tatsache, daß gestern gestern war, erscheint ihm absurd. Seit dem vorigen Absatz ist viel mehr Zeit vergangen, ein Monat oder ein Jahr, ein Leben oder nicht. Die Raststätte an der A45 kurz vor Siegen heißt Katzenfurt. Auf einer der nächsten Rückfahrten ißt er dort eine Currywurst, falls sie dreißig Jahre später noch auf der Speisekarte steht.
    Der Cousin der Mutter, der in Rüdesheim lebt, hat die Memoiren seines Onkels Enayatollah Sohrab nach Köln geschickt, also nicht wie vereinbart an die Mutter. Ich möchte nicht, daß sein Vater davon erfährt, verriet er der Frau am Telefon. Der Vater wiederum, den der Cousin in Rüdesheim fürchtet, meidet oder nicht bekümmern will, äußerte erst letzte Woche den Verdacht, der Sohn würde gerade ein Buch über die Bahais schreiben. Seinen Vorbehalt begründete der Vater damit, daß der Sohn nach der Veröffentlichung endgültig nicht mehr nach Iran reisen könne. Der Cousin hat ein wenig Propagandamaterial beigelegt, wie die Frau es am Telefon nannte. Das überrascht den Sohn nicht. Alle Bahais, die er kennt, sind freundliche, aufgeschlossene Leute, die einen so einleuchtenden Glauben haben, daß sie ihn als Broschüre stets mit sich führen. Auch nach Lesungen passiert es ihm öfter, daß ein älterer Herr auf ihn zutritt, ihm wärmstens zu seinen Erfolgen gratuliert, auf die alle Iraner in Deutschland stolz seien, und anschließend nach seiner Meinung zu den Bahais fragt. Wenn der Sohn dann zugibt, keine rechte Meinung zu haben, liegt die Broschüre schon in seiner Hand. Für weitere Informationen wird er nach seiner Adresse gefragt und ungefragt versorgt. In Köln hat er mittlerweile ein halbes Regalfach nur mit Büchern und Heften über den Bahaismus. Mehr als einen Blick hat er in keines geworfen. Die Bahais, die ihn nach den Lesungen ansprechen, haben vermutlich gar nicht vor, ihn zu bekehren. Es wirkt eher, als wollten sie sich vor einem Muslim erklären, den sie für überraschend aufgeklärt halten – was immer über sie gesagt werde, sei in Wirklichkeit ganz anders. Da er kaum wisse, was über die Bahais gesagt wird, könne er auch nicht falschliegen, verteidigt sich der Sohn manchmal. Das wenige, das er in den Broschüren aufschnappte, Zitat Bahaóllah: »Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger«, klingt so vernünftig wie eine Rede zur europäischen Einigung. Schön, wenn man Weltfrieden, Toleranz und Menschenrechte für richtig hält, aber das hilft ihm jetzt auch nicht weiter. Die Selberlebensbeschreibung von Enayatollah Sohrab wird er sich dennoch genauer ansehen, sobald er zurück in Köln ist; für den Fall, daß die Frau ins Bergische Land kommt, weil der Sohn näher am Herzzentrum oder im schlimmsten Fall in der Nähe von Siegen, wenn … schreib weiter, schreib einfach weiter, es ging doch ganz gut: für den Fall habe ich sie gebeten, den Umschlag mitzubringen, den der Cousin aus Rüdesheim geschickt hat, wenngleich nicht die Broschüren. Natürlich interessiert mich vor allem, ob Enayatollah Sohrab seinen Bruder erwähnt, der mein Urgroßvater sein müßte. Enayatollah Sohrab ist der Vater von Hedayatollah und Großvater des Cousins in Rüsselsheim, wenn ich die Verhältnisse

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