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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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es gibt sie, was wir jetzt brauchen, ist ein Wunder. Um 23:15 Uhr öffnet sich die Schwingtür für einen Blaugewandeten, der die Angehörigen anschaut, statt eilig zum Aufzug zu schreiten. Schon am Gesichtsausdruck erkennt der Jüngste, daß der Vater jedenfalls nicht tot ist. Es ist viel mehr als nur überleben: Die Kardiologen haben auf Anhieb eine Wunde gefunden, aus der das Blut nur so spritzte. Nun scheint die Blutung gestillt. Der Brustkorb bleibt bis zum Morgen offen für den Fall, daß das Herz erneut zu bluten beginnt. Alle Werte sind stabil. Der Jüngste ist es, der Laie, der fragt, ob sie den Vater sehen dürften. Der Blaugewandete zögert zunächst, blickt die Angehörigen prüfend an und schaut ungewöhnlich lang auf den Boden, bevor er schließlich ja sagt, er würde die Söhne rufen lassen, sobald der Vater fertig angeschlossen sei, die Mutter warte besser draußen. Angeschlossen, sagt er, angeschlossen, als sei der Vater selbst schon ein Apparat. Der hinten zu verschließende Kittel, die Desinfektion, der gedämpfte Ton, die Zimmer ohne Tür mit je zwei Patienten, Bildschirmen und zweitausend blinkenden Lichtern, das kennt der Jüngste alles. So ist er auch nicht schockiert, als er vor dem Bett des Vaters steht, zumal dessen Körper von einer Wärmedecke bedeckt ist ähnlich einer Alufolie. Natürlich, die Schläuche und Kanülen, überall, auch im offengehaltenen Mund, aber er wirkt friedlich, der Vater, er schläft, wirkt kräftiger sogar, größer, als ihn der Jüngste in Erinnerung hat. Vielleicht hat es mit dem Wasser zu tun, das im Körper des Vaters mal mehr, mal weniger wird. Der Jüngste betet, betet eben so laut, daß der Vater ihn hören könnte, rezitiert den Koran, spricht zu ihm, etwa, daß der Vater noch die herausgerissene Gardinenstange neu anbringen und die Frühgeborene aufwachsen sehen müsse. Er hat den Eindruck, in Zonen, die er nicht kennt, vom Vater wahrgenommen zu werden. Beim Herausgehen erklärt er dem Internisten, daß es heißt, der göttliche Frieden senke sich herab, wo immer der Koran rezitiert wird. Im Hotelzimmer, das sie weit nach Mitternacht noch finden, weist der Internist den Jüngsten darauf hin, daß der Kreislauf, der kaum meßbar gewesen, im Laufe ihres Besuchs sprunghaft angestiegen sei, sogar auf zu hohe Werte, um sich schließlich fast auf dem Idealwert einzupendeln. Während ich den Koran rezitierte? Ja. Der Jüngste will es als Laie nicht überbewerten, aber es wird schon etwas mit dem zu tun haben, was die Pförtnerin mit Energien meinte. Stört dich die Leselampe? fragt er den Internisten und fängt an zu schreiben, daß beinah pünktlich um 14:30 Uhr der Anruf erfolgte: Der Vater verliert Blut. Der Absatz verläuft ohne weitere Komplikationen, also Anrufen aus dem Herzzentrum. Der Internist schreckt einmal heftig aus dem Schlaf und liegt ab fünf Uhr wach. Woran schreibst du? fragt er. Nur eine weitere Notiz, druckst der Jüngste herum und läßt den Roman, den ich schreibe, eilig vom Bildschirm verschwinden.
    Am Morgen danach sprachen sie länger mit dem Chef des Herzzentrums, der die Grenzen der Medizin zu kennen und deshalb ein um so besserer Mediziner zu sein scheint. Keine Frage, der Tod ist übermächtig, aber was wir tun können, tun wir und wird von Jahr zu Jahr mehr, sagte sein melancholischer Blick. Ausdrücklich sagte er: Diese zweite Klappe operiert niemand gern, zumal nicht bei dem Alter Ihres Vaters und dessen Leberinsuffizienz, das ist nicht schön, das Problem der Blutung tritt beinah planmäßig auf, doch gab es praktisch keine Wahl, ein Wunder, daß Ihr Vater mit der Herzklappe so lang überlebt hat, völlig zerfleddert, wieder Zahlen, Zentimetergrößen, höchstens ein paar Monate wäre das noch gegangen, und jetzt scheint das Blut gestillt zu sein, das ist das Wesentliche, nein, ich glaube nicht, daß etwas zurückgeblieben ist, nein, nein, auch nicht im Gehirn, hoffen wir, aber müssen ihn erst einmal langsam in den Wachzustand überführen, nichts überstürzen, heute oder morgen, ganz behutsam, wenn er dann bei Bewußtsein ist, sehen wir weiter. Sicher kann es auch danach Komplikationen geben, aber dann haben wir auch unsere Möglichkeiten. Der Chef ist das ganze Wochenende im Herzzentrum und jederzeit für die Söhne erreichbar. Persönlich

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