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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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und nimmt an, daß der Vater wenigstens noch leben müsse, sonst wäre doch nichts deutlich, man sagt doch nicht »deutlich« tot, sondern einfach, es tut uns leid, niemandem tut es »deutlich leid«, also vermutet der Jüngste, daß die Blutwerte sich deutlich verschlechtert haben und der Vater sofort operiert werden mußte, Oberarzt hin oder her, dann eben vom Assistenten, bis der Internist bemerkt, wie der Jüngste den Daumen deutet, wohl deuten muß, ich meine, Daumen runter ist doch nun einmal negativ, das kann man nicht mehr deuten oder zurechtbiegen, das ist negativ, wenn nicht der Tod, dann die Aussichtslosigkeit, da reißt der Bruder den Daumen nach oben, ruft an der Sprechmuschel vorbei, daß es eine gute Nachricht sei, eine GUTE Nachricht, und der Jüngste begreift im weiteren Verlauf des Telefonats, daß die Blutung »deutlich« nachgelassen habe (das meinte der Internist mit dem Daumen nach unten) und der Vater nun Aussicht habe, eine realistische Chance, doch nicht operiert zu werden, man warte vorerst ab. Als sie gegen Abend auf die Autobahn einscheren, mahnt der Internist scherzhaft, der Jüngste solle das Mißverständnis mit dem Daumen bloß nicht in einer Geschichte verwenden. Der Roman, den ich schreibe, ist keine Geschichte.
    Im Hintergrund läuft laut die Tour de France, die der Zimmernachbar des Vaters eingeschaltet hat, als er kurz wach war. Man kann nicht anders, als zu registrieren, was zur selben Zeit in den Pyrenäen geschieht, ein Däne in Führung, allerdings unter Dopingverdacht, der Deutsche hat keine Chance mehr, fünf spanische Bergspezialisten in der Ausreißergruppe, das grüne Trikot des Punktsiegers. Ein ehemaliger Profi erläutert als Mitmoderator einfühlsam, wie sich die Fahrer fühlen, wenn der Puls über eine so lange Strecke »im Anschlag« ist und »die Reaktionszeit« daher nachläßt, etwa wenn ein Zuschauer plötzlich auf der Strecke steht. Das ist schon interessant, daran hat der Jüngste nie gedacht: die Bilder von Stürzen, wenn man am Fernseher meint, daß der Fahrer leicht hätte ausweichen können, wieso er denn direkt in den Zuschauer fährt, der mit einem Photoapparat oder einer Wasserflasche in der Hand nur einen Schritt über die Abgrenzung getreten ist – das liegt an der Reaktionszeit, die Reaktionszeit ist gegen Ende der Etappe und zumal in der Bergen nicht mehr normal. Obwohl der Jüngste seit Jahren kein Radrennen mehr gesehen hat, steht ihm das Bild des Radfahrers vor Augen, der bergauf in einen Zuschauer fährt. Wenn der Puls über eine so lange Strecke im Anschlag sei, sei eben nichts mehr normal, wiederholt der Experte, sagt dreimal in vier Sätzen normal oder nicht normal. Mit welchem Argument könnte der Jüngste die Krankenschwester oder den Zimmernachbarn bitten, den Fernseher leiser zu stellen, wie ihnen die anderen, möglichen Ebenen der Wahrnehmung begreiflich machen, auf denen der Vater die Übertragung der Tour de France und zumal die Werbeunterbrechungen genauso registriert wie nach der ersten Operation den Koran. Wer aus der Spitzengruppe zurückfällt, nur ein wenig zurückfällt, hat in der Regel keine Chance mehr, dann spielt die Psychologie nicht mit, der Wille, dann wird er durch das Hauptfeld nach hinten gereicht. Der Jüngste beobachtet durchgehend den Schlauch, der aus dem Bett zu einem Apparat führt, der links mit blauer, rechts mit roter Flüssigkeit gefüllt ist: Das Herz des Vaters blutet nicht mehr. Angegeben sind Servicenummer für Asien/Ozeanien, Afrika, Amerika und Europa. Ob er einmal anrufen soll? Europa hat eine Nummer mit 0033; das ist Holland, glaubt der Sohn, Holland oder vielleicht Belgien? Was auch immer, die werden sich schon verständigen können, wenn etwas mit dem Apparat ist.
    Auf der Rückfahrt schiebt der Jüngste persische Chansons aus den Fünfzigern plus minus einem Jahrzehnt ins Autoradio. Die Lieder meiner Jugend, wundert sich die Mutter auf der Rückbank, wo hast du die her? Die Populärmusik jener Zeit kann der Jüngste beinah wahllos hören. Zwar handeln die Texte ebenfalls von Herz und Schmerz, aber das Fortdauern der persischen Mystik verwandelt selbst die schnödeste Schnulze in ein fiebriges Gottverlangen, zumal die Harmonien – anders als die strenge Kunstmusik sind diese Lieder zum Mitsingen melodisch – noch nicht die der amerikanischen

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