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Mystik bis zur Ununterscheidbarkeit verschmelzen. Noch im Zensus von 1911 bezeichneten sich zweihunderttausend Inder als Hindu-Mohammedaner. Und selbst heute sind für viele die Trennungslinien zwischen den Religionen weit durchlässiger, als es sich religiöse Führer in Kairo oder Rom je werden ausmalen können.
In der Moschee des Chisti, die ein Stück weiter in Richtung der Stadtgrenze noch in alter Schönheit steht, beten Hindus und Muslime weiter gemeinsam, vor den Grabsteinen Männer neben Frauen, Kinder neben Greisen versunken. â Bei uns beten selbst die Atheisten, lacht der Baba, der Nachfahre des Heiligen und Ãlteste der Familie, ein groÃgewachsener Herr mit weiÃem Kinnbart, Haaren und Gewand, der mit Freunden und Verwandten im Garten des Schreins sitzt. Die Gesellschaft ist gebildet, wohlhabend und, wie einer der Herren betont, antifundamentalistisch. Mit den Nachbarn, obwohl die meisten hier die Hindu-Partei wählen, hatten sie noch nie Probleme â wie auch, wenn die Nachbarn zum Beten kommen? Der Mob â ach, ein Mob sei mit Geld und Alkohol überall leicht zu beschaffen, beinah wöchentlich komme es irgendwo in Indien zu einem Ausbruch der Gewalt, lesen Sie doch nur die Zeitungen. In Gujarat werde der Mob allerdings vom Staat organisiert, das sei der Unterschied, nicht die Nachbarn. Sie selbst hatten Glück, nebenan die Polizeiwache habe den Schrein beschützt, sprechen in perfektem Englisch über die bevorstehenden Wahlen und die Strategie der KongreÃ-Partei, die sich um die Muslime kaum bemüht und statt dessen ihrerseits religiöse Töne anschlägt. Die Muslime, so das Kalkül, würden ohnehin für den Kongreà stimmen. Der Baba ist pragmatisch: In Gujarat müsse der Kongreà eben mit den gemäÃigten Fundamentalisten paktieren, um den Sieg der Hindu-Partei zu verhindern. Andere Herren widersprechen heftig. Für sie gibt es keine gemäÃigten Fundamentalisten. Einig ist sich die Gesellschaft, daà eine Wiederwahl des Chief Ministers selbst ihren Orden in Bedrängnis brächte, der doch schon immer hier war, seit der Gründung der Stadt vor fünfhundert Jahren. Als der Baba zum Abschied mit vors Tor tritt, nimmt er beiläufig die Handküsse der Gläubigen entgegen. Viel Glück für die nächsten fünfhundert Jahre, wünscht ihm der Berichterstatter.
Auf dem Laptop 6:35 Uhr deutscher Zeit, Samstag, der 12. Oktober 2007, sitzt auf zwei Plätzen ein gewichtiger Inder, dessen fünf Koffer so im Abteil verteilt sind, daà beide Ellbogen des Berichterstatters eine Lehne haben und die FüÃe eine Stütze. So hat dieser bequem genug und bis Agra Zeit, den gestrigen Tag an sich vorüberziehen zu lassen, ein Limit allein die Batterie, die er vor lauter Routine aufzuladen vergaÃ. Der Ãbersetzer stellt dem Berichterstatter einer Nachwuchsaktivistin voll Energie und gutem Willen vor. Sie sei die Zukunft Indiens, verabschiedet der Ãbersetzer sie ins Taxi, wo der Berichterstatter feststellt, daà die Zukunft Indiens kein Englisch spricht. So freundlich, wie er die Aktivistin anlächelt, fühlte sie sich zu einer Auskunft verpflichtet und zählt daher die injured people , killed people , displaced people , affected people und alle anderen Opfer auf, die sie über Seiten handschriftlich in ihr Schulheft eingetragen hat. Die Aktivistin führt ihn auf eine Wiese, auf der Kühe zwischen Abfällen grasen, ein Betonkreis, eine Art Brunnen, wie sich herausstellt, zweieinhalb Meter im Durchmesser vielleicht, sechs, sieben Meter tief, der gleiche Gestank wie auf der Müllkippe, neben der die Vertriebenen heute wohnen, die Innenwände schwarz vom RuÃ, eine alte Schultasche auf dem Boden. Hier seien die Toten hineingeworfen worden, sagt die Aktivistin, 117 Leichen. â Wie bitte? â 117 death here. â Hier drin? â Yes. â Muslime werden doch begraben? â Here 117 death people, fire. â Feuer? â Yes, fire, here, 117 death people. Der Berichterstatter weià nicht genau, was »angezündet« auf englisch heiÃt, switched on?, versuchte er es, 117 people switched on here? Das Englisch der Aktivistin reicht ohnehin nicht aus: My people fire. Wie gut versteht der Berichterstatter die Scham der Nachwuchsaktivistin, die die Zukunft Indiens sein möge. Keine Hektik, mit 42 Prozent, die auf der Batterie verblieben sind, kommt er durch den
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