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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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geschlungenen Tüchern. Die Männer tragen ihr Bündel aus Plastikfolie auf der Schulter, die Frauen balancieren es auf dem Kopf. Jeder einzelne hält einen langen Stock mit der grün-weißen Fahne der indischen Landrechtsbewegung in der Hand. Zwischen den Reihen Platz für die Ordner, Musiker und Sänger, nötigenfalls Jeeps oder andere Fahrzeuge. Vor jeder Tausendschaft ein Traktor, der einen Wassertank zieht, dahinter eine Fahrradrikscha mit zwei großen Lautsprechern aus Blech, einer nach vorne, einer nach hinten gerichtet. Es ist so laut wie fast immer in Indien. Die Gesichtszüge und -farben sind in jeder Tausendschaft anders, auch die Muster der Saris, der Schmuck, die Zurückhaltung oder Selbstsicherheit der Frauen, die Sprache, weil die Marschierenden aus ganz Indien stammen. Viele Landlose sind schon alt, Greise unter ihnen, damit in ihren Dörfern die Jüngeren weiter arbeiten können, obschon der Berichterstatter später feststellen wird, daß die Kastenlosen, Angehörigen der niederen Kasten und Stammesmitglieder schon mit Fünfzig aussehen wie Europäer mit Achtzig. Seit zwölf Tagen marschieren sie, hundertfünfzig Kilometer bereits, zweihundert Kilometer stehen noch bevor, bis sie das nationale Parlament erreichen, sofern die Behörden weiterhin den Weg freimachen, der nicht idyllisch ist, sondern Autobahn, der Highway von Bombay nach Delhi. Hinter der Leitplanke staut sich der Verkehr. Nicht alle Autofahrer wirken begeistert. Indien boomt: In der Abflughalle vier drahtlose Netzwerke, der Cappuccino teurer als in Köln. Über neun Prozent Wirtschaftswachstum jährlich, jubelt die Mappe, die das Archiv mitgegeben hat, weltweit konkurrenzfähig die Informationstechnologie, Pharmazie, Biotechnologie, Raumfahrttechnik, Nuklearindustrie und natürlich der Dienstleistungssektor, der inzwischen nicht mehr nur Aufträge aus dem Westen abzieht, sondern auch Mitarbeiter: die Löhne zwar nicht höher, aber das Leben viel billiger, erklärt ein deutsches Wirtschaftsmagazin und verweist auf »den sensationellen Freizeitwert«, Himalaja statt Allgäu, Goa statt Costa Brava. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt investiert der indische Staat mehr Geld in Forschung und Entwicklung als Deutschland. In den Städten sind die Zeichen wachsenden Wohlstands unübersehbar, an dem vielleicht zweihundert, vielleicht zweihundertfünfzig Millionen Menschen wenigstens indirekt teilhaben, die Mobiltelefone und Laptops, Hochhäuser und Shopping-Malls. Die neuen, privaten Fluglinien bieten einen besseren Service und modernere Maschinen an als die meisten Anbieter in Europa. Natürlich bucht man im Internet und fliegt nur noch per E -Ticket. Wer früher der unteren Mittelklasse angehörte, fährt heute ein kleines Auto und schickt seine Kinder in die Privatschule. Wer mehr verdient, zieht sich in eine der gated communities zurück, die allerorten entstehen. Und für den Reichtum kennt Indien keine Grenzen. Das Land ist nicht länger Bittsteller, sondern künftige Weltmacht, wie es die Archivmappe rauf- und runterdekliniert. Der Berichterstatter steigt über die Leitplanke und schlängelt sich durch die Autos. Dienstleistungen sind so billig – das Wirtschaftsmagazin vergißt es zu erwähnen –, daß auch Kleinwagen ihren Chauffeur haben. Wahrscheinlich würde der Verkehr trotz der gesperrten Fahrbahn fließen, wenn die Fahrer nicht zwischen den zwei verbliebenen Spuren auch noch überholen wollten, und zwar prinzipiell gleichzeitig in beide Richtungen. So sind die Wagen alle hundert Meter ineinander verkeilt wie zwei Rugbymannschaften beim Anpfiff. Einige Fahrer sind ausgestiegen und schauen ungläubig zur anderen Fahrbahn. Aus Busfenstern knipsen Japaner. Daß Sozialhilfeempfänger und Obdachlose die Autobahn von Frankfurt nach Köln auch nur einen Tag blockieren dürften, wäre undenkbar. Hier legt es keine Regierung auf eine Konfrontation an, weder in den Provinzen noch im Bund, weil Indien dann doch eine Demokratie ist und die Landlosen die Untersten der Gesellschaft repräsentieren, damit die Mehrheit der Wähler. Für gestern hatte sich der Agrarminister angekündigt. Später entschuldigte er sich mit einer Kabinettssitzung, die sich in die Länge gezogen habe, und versprach, den Besuch bald nachzuholen. Enttäuschung mischte sich in die Erschöpfung der Landlosen, dazu die Kälte bei

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