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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Namen seiner Religion geschah. In jedem Fall waren es auch Tage und Nächte wie diejenigen bei Schneefall in Hamedan, die ihn davor schützten, Andersgläubige für schlechtere Menschen zu halten. Im Gegenteil irritierte und quälte es ihn noch als Greis, berichtete mir der Orthopäde, der selbst noch von Großvater in den Glauben eingeführt worden ist, daß sich in seinem Leben die Christen oder Bahais oft als die Anständigeren erwiesen hatten. Endlich hieß es, man könne es über den Paß von Asadabad wagen. Als Großvater die Kutsche bestieg, traute er seinen Augen nicht: In Decke, Mantel, Schal und Wollmütze eingemummelt, saß auf der Rückbank Saíd Efendi, sein alter Französischlehrer aus der Alawiye-Schule in Isfahan. Eine solche Begegnung in der Fremde bedeutete vor neunzig Jahren etwas ganz anderes als heute, da man sich am Strand oder in der Abflughalle trifft, nämlich eine Schicksalsgemeinschaft. Es dämmerte bereits, als sie sich dem Paß von Asadabad näherten. Die vier Pferde waren so erschöpft, daß sie die Steigung nicht mehr schafften, noch dazu war die Kutsche in einen Schneesturm geraten. Wie wild schlug der Kutscher mit seiner Peitsche auf die Pferde, nicht um sie zu quälen, sondern weil er genau wußte, daß sie den Paß vor Einbruch der Nacht nehmen mußten. Bergab würde es in der Dunkelheit schon gehen, die Postkutschenstation lag gleich hinterm Paß. Der Rückweg hingegen war zu weit, und eine Nacht in dieser Kälte würden weder Menschen noch Pferde überleben. Auch die Reisenden stiegen jetzt aus, um die Kutsche anzuschieben. Den Pferden quoll Schaum aus den geschlossenen Mündern, und bei jedem Peitschenhieb zuckten sie so heftig, daß Schnee und Eis stoben. Sie wollten ja durchaus selbst nach oben, sie kämpften, aber bei jedem zweiten Schritt, den sie nach vorn taten, knickten ihre blutenden Knie um oder versanken die Beine im Tiefschnee, der sich rot färbte. Einige der Reisenden stampften nach vorn, um am Geschirr, am Hals, an der Mähne zu ziehen oder den Pferden auf die Beine zu helfen, wenn sie wieder eingeknickt oder in den Schnee gesunken waren. Nur Großvater ließ plötzlich seine Arme fallen und heulte wie ein kleines Kind, das zu seiner Mama will. Da schrie ihm sein alter Französischlehrer Saíd Efendi, ein Christ übrigens, durch den Sturm die Verse des gepriesenen Saadi zu: »Vergessen hat Gott dich damals nicht, als du ein Tröpflein warst, verhüllt und klein. / Das Leben haucht’ er, Gefühl, Verstand, Gedanke, Schönheit, Redekraft dir ein. / Zehn Finger reiht’ er in deinen Händen an, zwei Arme knüpft’ er an das Schulterbein. / Und nun, kleingläubige Seele, denkst du wohl, könntest je von ihm vergessen sein.« Als sie schließlich in der Dunkelheit die Umrisse des Stalls entdeckten, jubelten die Reisenden wie die Entdecker Amerikas. Glückwünsche wurden ausgetauscht, Gebete gesprochen, Gelöbnisse abgelegt. Schneebedeckt und steif vor Kälte trat Großvater ein. Im fahlen Licht einer einzelnen Petrollampe, tscheragh-muschi genannt, »Mäuselämpchen«, war eine kleine Estrade zu erkennen, auf der ein schmutziger Korsi stand, einer dieser persischen Öfen, um den herum Decken ausliegen, unter die man schlüpft. Als Großvater genauer hinsah, erkannte er die Wollmütze von Saíd Efendi. Sein alter Französischlehrer lag flach ausgestreckt am Korsi, die Decke bis übers Gesicht gezogen. Großvater hob die Decke an, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. – Was wartest du noch? fragte Saíd Efendi zurück, der sich die Glückwünsche, Gebete und Gelöbnisse im Freien erspart hatte: Schlüpf unter die Decke. Du kannst darauf wetten, daß der Kutscher und der Pferdeknecht uns vom Korsi verscheuchen werden, sobald sie die Pferde versorgt haben. Dann werden wir uns einen Platz in der Kälte suchen müssen. Großvater kroch zu seinem alten Französischlehrer, dessen Prophezeiung sich alsbald bewahrheitete. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Zusammen mit den anderen Reisenden verbrachten sie den Rest der Nacht stehend zwischen den acht Pferden, deren Körperwärme sie am Leben hielt. Bei Sonnenaufbruch wurde die Reise mit den frischen Pferden fortgesetzt. Um die Tiere für den harten Tag zu schonen, mußten die Reisenden wie am vorigen Tag die Kutsche anschieben,

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