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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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gleich ob sie Loge oder Holzklasse gebucht. Am Wegesrand stand ein Esel, wohl zurückgelassen von einer anderen Reisegesellschaft. Umringt von einigen Vögeln und wilden Tieren, die damit beschäftigt waren, ihn aufzufressen, obwohl er noch lebte, blickte der Esel die Reisenden an, ein Bild, das Großvater … – Wenigstens du warst Zeuge, sagt der Musiker, der am Dienstag, dem 6. November 2007, um 11:48 Uhr aus München anruft, um sich zu entschuldigen, daß er nicht zum Geburtstag nach Köln kommen kann. – Wer hat schon erlebt, was du erlebst? entschuldigt der Freund die Bekannten, die bedauern, daß der Musiker so sonderbar geworden sei. Zwischen den Chemotherapien macht er Musik, sonst nichts, allerdings nur mit dem Zeigefinger am Cursor seines Laptops, da die Feinmotorik gestört ist, trifft keine Menschen, ruft niemanden an, nennt Bekanntschaften » Schlangengift«, zahr-e mâr , und meint den Begriff medizinisch. – Du warst Zeuge, sagt der Musiker, zwei, drei Zeugen habe ich zum Glück. – Ich habe Notizen gemacht, verrät der Freund. Wenn Sie, Sie großgeschrieben!, diesen Absatz einmal lesen sollten, dies hier, den Roman, den ich schreibe, vergessen Sie bitte nicht: Alles, was Sie und auch der Freund selbst über die Liebe hinaus für wichtig erachten, Erfolge und Niederlagen auf Erden, die sich darauf reduzieren lassen, was andere über einen denken und äußern, Ihr Chef über Sie, Kollegen, Bekannte, wenn Sie Romanschreiber sind wie er: Rezensenten oder Juroren, es kann mit einem Wimpernschlag gleichgültig werden und ist es also schon jetzt, weswegen es alles andere als romantisch erscheint, jemanden nichtsahnend aus dem Haus gehen zu lassen, vielmehr gemeiner Realismus, wie ein einziger Anruf dem Freund wieder ins Bewußtsein rückt. Der Musiker, über den die Zeitung diese Woche einen ganzseitigem Artikel mit nachdenklichem Photo an Bahngleisen oder dergleichen abdruckte, Kritikerliebling, Frauenschwarm, voller Achtung die Kollegen und noch dazu ein Glückspilz, weil ein Modekonzern seine letzte Platte, hat der Freund es bereits erwähnt?, ein Modekonzern seine letzte Platte kurz nach dem Tod seiner Mutter für alle Modenschauen gekauft hat, die große Präsentation in Tokio und Paris und wo sonst noch alles, der Musiker zeigte ihm die DVD , spindeldürre Gestalten wie aus einem Gespensterfilm, die zu seiner Musik über den Laufsteg stapfen, und ältere Damen, die neidisch auf die Models starren, weil die noch begehrt werden, aber die werden gar nicht begehrt, was will man denn da begehren?, wo nur Haut und Knochen sind und die wenigen Herren entlang des Laufstegs schwul vermutlich, um die uniforme Körperlosigkeit der Models zu ertragen, und als Musik, das muß man sich vorstellen, die Platte des Musikers, die ein Scout mit Ohren für Gespenstermusik im Internet aufgestöbert hatte, das muß man sich vorstellen, japanische Models, viele japanische ältere Damen, wenige japanische schwule Herren, und der japanischen Ausgabe der weltweit führenden Modezeitschrift lag die CD des Musikers aus München als Werbung eines Modekonzerns bei, er zeigte sie dem Freund aus Köln, der Gespensterfilm mit japanischen Untertiteln, nein, auch japanischen Gespenstergesichtern, und mit einemmal, kurz nach dem Tod seiner Mutter, als der Musiker zwischen der zweiten und dritten oder dritten und vierten Chemotherapie stand oder genau gesagt eben nicht mehr stand, sondern sich auf dem Sofa krümmte, liegt da so ein Brief oder was weiß denn der Freund eines Modekonzerns aus Paris oder der weltweit führenden Modezeitschrift aus Tokio oder irgendeinem Agenten oder seiner Plattenfirma oder, nein das war es: eine Mail von einem dieser Scouts liegt im elektronischen Postfach, die nichts anderes tun, als alle Tage und Nächte nach Klängen zu suchen, die genügend mysteriös sind, so wild und fremd wie die Platte des Musikers, auf die der Scout im Internet stieß, so daß er sich zur Website des Musikers durchklickte, nach einer Kontaktadresse suchte und eine fünfzeilige Mail auf englisch tippte, die den Musiker auf Jahre von finanziellen Sorgen zu befreien verspricht, drückt auf Absender, wie man eine Bombe ferngesteuert zündet, eine Bombe in dem Zimmer, in dem der Musiker zum Glück nicht mehr wohnt, dieses Krebszimmer mit den immer zugezogenen Vorhängen oder heruntergelassenen Jalousien,

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