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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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aus. Wahrscheinlich wäre das nie jemandem aufgefallen, wenn der spätere Herausgeber, der damals eine Ausbildung machte (die er vorzeitig abbrechen sollte wie zuvor bereits die Schule), nicht über eine einzige Stelle gestolpert wäre, ein einzelnes Satzzeichen, nämlich den Punkt nach »sehen lassen / und das Eingeweid’ der Erde«. Er sagte seinem Ausbilder, daß hier ein Vers offenkundig unvollständig sei. Der Ausbilder, der ein kunstverständiger Mensch war, tadelte den Lehrling dafür, über Dinge zu spekulieren, die er womöglich nachprüfen könne, und fragte, ob die Handschriften existieren. Der Lehrling, gerade zwanzig Jahre alt, vermute ich, höchstens Mitte Zwanzig, nahm sich Urlaub, um zur Landesbibliothek zu fahren. Als er die Manuskripte vor sich hatte, stellte er fest, daß er Hölderlins Schrift nicht lesen konnte. Also bestellte er einige Manuskripte als Kopie, die er Wort für Wort mit der gedruckten Ausgabe verglich, um Hölderlins Handschrift lesen zu lernen. Über die Jahre ging ihm auf, wieviel Text auch die Stuttgarter Ausgabe ausgelassen hatte, die doch wegen ihrer Vollständigkeit gerühmt worden war. Als Dilettant, der gewesen zu sein er gegenüber der Zeitung »ganz offen« gesteht, entwarf er seine eigene Ausgabe. Hätte ihn damals der Strom-, Gas- oder Wasserableser gefragt, was er da tue, wahrscheinlich hätte der spätere Herausgeber ihm geantwortet, daß man davon noch hören werde. Nach fast zweihundert Jahren erleuchtete Hölderlins Kerze einen weiteren Dachboden.
    Erstaunlich bleibt die immense, nur mit dem Erfolg des Werthers vergleichbare Popularität, die Jean Pauls frühen Romanen und speziell dem Hesperus sofort nach Erscheinen zuteil wurde. Das bedeutet, daß die Erwartungshaltung des breiten Publikums noch nicht auf Identifikation und Spannung ausgerichtet war, wie wir es seit langem voraussetzen. Sosehr die Buchhandelsketten und jene Literaturkritik, die ihnen zuarbeitet, das Erzählen nach dem Illusionsmodell amerikanischer Filme protegieren, wie amerikanische Filme oft gar nicht mehr sind, ist doch die gegenläufige Bewegung unübersehbar. Das natürliche Medium, die Welt in der Unordnung abzubilden, wie sie in unsere Wahrnehmung tritt, scheint das Internet zu sein, das Schreiben in Echtzeit ermöglicht. Wie fragwürdig die Behauptung ist, ich zu sagen, die im Netz so leicht fällt, zeigt sich spätestens, wenn der Blog gedruckt wird, gar mit der verkaufsfördernden Gattungsbezeichnung Roman. Ohne Form ist es Geplapper, Unmittelbarkeit die schwierigste Kunst. Unmittelbar ist die Lüge. Die Zeit, gegen die sich der Blog behaupten will, vernichtet ihn spätestens als Buch. Ich glaube, irgendwo hier liegt der Impuls Elfriede Jelineks, ihren letzten, in vielerlei Hinsicht vielleicht sogar bedeutendsten Roman, der fortlaufend im Internet erschienen ist, nicht zu drucken, und der Grund, warum umgekehrt andere Autoren nichts mehr zu sagen haben, seit sie mit dem Blog ein zu simples Format fanden. Die Literatur kennt keine Abfälle. Jedenfalls lehren das Alte Testament und der Koran, daß alles auf Erden ein Zeichen Gottes sei. Als frommer Mensch mag man das leicht glauben. Aber wenn der Mensch sich einmal vor Augen hielte, was es bedeutet, daß alles, wirklich alles auf Erden ein Zeichen Gottes sei, geriete seine Frömmigkeit schnell ins Wanken. Weder im Alten Testament noch im Koran gibt es einen Gedanken, der ketzerischer wäre als dieser, daß es auf Erden keinen Abfall gibt. Auch die Literatur sieht in allem ein Zeichen. Als begeisterter Leser mag man das leicht glauben. Aber wenn man sich einmal den Roman vor Augen hält, der alles, wirklich alles auf Erden erzählte, würde man nach einigen Seiten zuklappen oder sich vorher bereits den Rücken verheben.
    Seine erste Zeitung, die Seyyed Zia Tabatabaí mit sechzehn Jahren gründete, wurde verboten, weil dem Gesetz nach ein Herausgeber mindestens dreißig Jahre alt sein mußte. Seyyed Zia wartete nicht vierzehn Jahre, bis er die nächste, übernächste und vierte Zeitung herausgab, die sich wegen ihrer Angriffe gegen diesen oder jenen Politiker oder Prinzen ebenfalls nicht lange hielt. In den Wirren nach der Revolution war er achtzehnjährig in mindestens einen Terroranschlag der Konstitutionalisten verwickelt, versteckte sich in der belgischen oder österreichischen Botschaft und fand

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