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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Dabei meint Navid Kermani es mit Engeln ganz ernst. Nach dem Gebet hängt er die Wäsche auf, die er aus Köln schmutzig mitgebracht hat, um weniger Zeit in der Wohnung verbringen zu müssen. Auf Anhieb begreift er, weshalb 1973 im Atelier Nummer zehn Rolf Dieter Brinkmann der Koller überfiel. Alles an der Akademie – ihre Großzügigkeit –, an der Stadt – ihre Pracht –, an diesem Stipendium – die Erwählung – legt so penetrant nahe, dankbar und fröhlich zu sein, daß die Nummer zehn des Jahrgangs 08 schon aus angeborenem Trotz mit Trübsinn reagieren würde, hätte er nicht andere Gründe genug. Zum Glück hat er den Seidenteppich aus Isfahan mitgebracht, der den riesigen weißen Wänden und dem Steinboden ein paar vertraute Farben entgegensetzt. Ohne Absicht warf er ihn genau so, daß er Richtung Mekka liegt.
    Ausgerechnet den Karton mit Jean Paul muß er aus Versehen in den Keller getragen haben. Mit dem restlichen Handapparat ist auch Rolf Dieter Brinkmann dort gelandet, was der Nummer zehn die Auseinandersetzung mit dem berühmten Vormieter aus Köln erspart. Dafür ist er in Arkadien vierundzwanzig Stunden täglich bis nach China verbunden. Er sitzt, geht, kniet, steht, liegt, geht, sitzt, liegt, kniet, steht, geht, sitzt in dieser weiten, hohen, kahlen, leeren, kalten, taghellen Halle, ringsum ein Park, in dem alle deutsch sind wie auf dem Set eines Fernsehfilms, den das Drehbuch, eine Laune des Redakteurs oder die europäische Filmförderung in den Süden verschlagen hat; tagsüber sieht er wenigstens noch in die Baumkronen und den Himmel, nachts nichts von der Welt. Jeder Buchstabe, den er tippt, hallt so laut nach, daß sich in anderen Mietshäusern die Nachbarn beschweren würden. Er jedoch macht soviel Lärm, wie er will, nein, wie er überhaupt kann, dreht die Anlage bis zum Dröhnen auf und wird von niemandem gehört, wie die Nummer neun heute morgen bestätigte. Und dann bemerkt er gerade hilflos, wie aus der Standleitung Gift in den schalldichten Raum strömt, etwa jeder Furz einer blonden Impertinenz, einer Sängerin, Schauspielerin, oder hat sie, er schaut nach, ja, sie hat etwas mit einer Hotelkette zu tun. Daß jede eingehende Mail ohne Verzögerung auf dem Bildschirm erscheint, gut, das gilt heute als normal. Daß er während des Schreibens jedes Wort, jeden Namen, jeden Ort, jede Frage, jede Unsicherheit augenblicklich nachschlagen kann, auch das muß er in den Griff bekommen. Zu chatten unterläßt er besser, wer weiß, ob die Anstaltsleitung nicht die Internetprotokolle der Stipendiaten überprüft wie in anderen Anstalten die Herzfrequenz, den Puls oder die Gehirnströme von Patienten. Dann jedoch trinkt er ein Glas Wein bei Nummer eins, um überhaupt mit jemandem in Italien mehr als Begrüßungsworte zu wechseln, und erfährt, wie einfach es ist, im Internet Radio zu hören. Zurück am Schreibtisch, schließt er seine Allmacht an die Stereoanlage an, und nach zwei, drei Tastenschlägen ist er in bester Tonqualität und voller Lautstärke mit dem Rockabilly Radio in Detroit verbunden, das alles außer Standards spielt. Der Hall läßt noch das Menü der Kölner Mensa monumental klingen, das im Studentenradio durchgegeben wird. Zwischen acht Sendern ausschließlich mit klassischer persischer Musik kann er wählen, die iranischen Popvarianten schon nicht mehr zu zählen, arabischer Techno, das African Internet Radio , indonesischer Gaytalk, chinesisches was weiß er denn was. Allein Itunes bietet 102 verschiedene Hip-Hop-Sender aus allen Kontinenten, und dann gibt es noch Surfmusik , Internetradio , Liveradio , Phonostar , XM , um nur die ersten Funde der Suchmaschine zu nennen, jeder mit Hunderten, Tausenden Sendern in allen Genres. Klassisch reicht Itunes , um bei der erstbesten Auswahl zu bleiben, von ASCAP Concerts , der Radiostation der American Society of Composers über das Solo Piano Radio (»Piano Music to Quit your World« braucht er in seiner Großgummigruft gerade nicht) bis zu Conoisseur Classics , das damit wirbt, werbefrei zu sein. Ob György Ligeti das Stück, das am Montag, dem 18. Februar 2008, um 23:43 Uhr im sfSoundRadio läuft, wirklich »MoltoSostenuteECalmo« genannt hat, wie unter dem sogenannten Livestream steht, kann die Nummer zehn auf der Stelle überprüfen … Nein, es

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