Dein Name
leergeräumt hatte, schon auf zwei Uhr ging es zu, schaute ich rasch nach den Mails und fand die Nachricht ihres Freundes vor. In der Annahme, daà ich längst von ihrem Tod erfahren hätte â so wie zuvor bereits von ihrer Krankheit â, lud er mich für den darauffolgenden Sonntag zur Gedenkfeier im Schauspielhaus Bochum ein. Nein, ich wuÃte weder von ihrem Tod noch von ihrer Krankheit. Wenn ich mich nicht täusche, bin ich Veronika zuletzt Anfang oder Mitte der neunziger Jahre begegnet, als sie noch am Mülheimer Theater an der Ruhr spielte.
Nach dem Abitur hospitierte ich in Mülheim. Auf der Bühne hatte ich Veronika bereits gesehen, im Neuen Prozeà , im Sommernachtstraum , in Gott und überhaupt allen Stücken, mit denen das Theater an der Ruhr mir bei seinem jährlichen Gastspiel in Siegen die Sehnsucht nach dem Theater einimpfte, die Sehnsucht überhaupt nach etwas, das für mich Bedeutung hätte in der Welt, die Sehnsucht nach Welt. Ja, das waren die Schauspieler und Schauspielerinnen, die ich noch in den anschlieÃenden Diskussionen mit dem häufig erzürnten Publikum erlebte â das Theater und die Welt, Antibürger ihrem ganzen Habitus, ihrem Reden, ihrer Beseeltheit nach, hingegen wir langhaarig in der Evangelischen Studentengemeinde saÃen, wo sich die Bürgerinitiative Umweltschutz wöchentlich versammelte, und in Raserei gerieten bei der Kunde, daà hinterm Bahnhof, wo die neue Autobahn entlangführen sollte, ein Haus besetzt worden sei. Im Theater gibt es keine freien Tage, im Theater gibt es nur Waschtage, so in der Art waren die Sätze, die ich in Mülheim zu glauben lernte. Denn frei sind wir nur im Theater.
ÃuÃerlich war 1988 das Meisterjahr für das Theater an der Ruhr , die Kritiker verzückt, aus aller Welt Einladungen, das Fernsehen zu Gast mit Teams, deren Techniker so etwas Bizarres wie feste Arbeitszeiten kannten, und die jungen Leute, die vorsprachen, raunten mir ehrfürchtig zu, weil ich Programmhefte verkaufte. Mülheim war nicht mehr nur Avantgarde, sondern hochamtlich Theater des Jahres. Doch in den Provinzstädten, in denen das Theater an der Ruhr nach wie vor die meisten Gastspiele hatte, in Herne, Solingen oder eben Siegen, hatten die wenigsten Zuschauer von dem Erfolg in den Feuilletons und auf den Festivals gehört. Selten füllten sich die Mehrzweckhallen und Schulaulen, verlief eine Aufführung ohne knallende Türen. »Unverschämtheit« war noch das Harmloseste, was die Herner, Solinger oder Siegener auf die Bühne brüllten. Dafür klatschten die Verbliebenen um so dankbarer, so wenige es am Ende oft waren, manchmal nur zwei, drei Dutzend, die sich in den Stuhlreihen wie Hausbesetzer verteilten.
Veronika Bayer spielte die Hauptrollen. Innerhalb des Ensembles schien sie die Position der wilden, fremden Gordana Kosanovic eingenommen zu haben, die zwei Jahre zuvor gestorben war, nur 33 Jahre alt. Veronika war ganz anders, deutsch natürlich, fünfzehn Jahre älter, viel mehr Schauspielerin im herkömmlichen Sinne, beherrschte das Handwerk in Perfektion, das in Mülheim häufig verfemt wurde (als ich im Internet nach ihrem Namen suchte, fand ich eine Rezension der Zeit aus den sechziger Jahren, die sie als »vollgültigen Schiller-Spieler« aus dem ansonsten mittelmäÃigen Ensemble herausnahm). Ob ihre Prägung tatsächlich so bürgerlich war, wie ich es mir einbildete, weià ich nicht, denn ich kenne von ihrer Vergangenheit nur die Stationen â als Neunzehnjährige die Heldin in deutschen Heimatfilmen, Melodie und Rhythmus , Wenn die Heide blüht , später die groÃen Bühnen, Freie Volksbühne, Burgtheater, Köln, als die Bühne dort noch groà war, schlieÃlich Düsseldorf, während Roberto Ciulli das Theater an der Ruhr gründete.
Womöglich brauchte sie zwei, drei Jahre Anlauf, da der Sprung aus dem Staatstheater für sie am gröÃten war. Gewià ist jedoch, daà sie den Erwartungen der Bildungsbürger leicht hätte entsprechen können â wenn nur ein Mitglied des Ensembles, dann sie, ihre Sprechtechnik, die tiefe Stimme, die dramatischen Gesten, ihr schmerzhaft wirkendes Lächeln, auch ihr ätherisches Gesicht wie aus einem Gründgens-Film. Das machte ihre Verwegenheit, ihre Neugier, die Bereitschaft zum Schmutz und zur MiÃgestalt noch gröÃer. Andere hatten sich zum
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