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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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weniger als früher. Er wollte Schauspieler um sich haben, deren Künstlertum in ihrem Menschsein lag, in gewisser Weise eben Freaks. Der Schauspieler Fritz Schediwy, der Freak mit der höchsten Theatralität in Deutschland, trat ins Direktorium ein. Der Erfolg hatte Ciulli mißtrauisch gemacht. Die Idee entstand, mit dem Theater auf Reisen zu gehen, nicht für einzelne Gastspiele, nicht für eine Tournee, sondern dauerhaft und bis nach China, das Nomadische als eine Form des Lebens und Arbeitens. Sterbt, bevor ihr sterbt.
    Ein Großteil der Schauspieler verließ das Ensemble oder mußte es verlassen. Veronika blieb, obwohl sie doch mehr als jeder andere am Theater Schauspielerin im Sinne des bürgerlichen Theaters war. Sie begeisterte sich für den Aufbruch und zeigte sich entschlossen, an ihm teilzunehmen, ihn zu unterstützen. Ihre Mittel wurden geringgeschätzt und doch dringend gebraucht, um die bescheidene Theatralität auszugleichen, die manche der neuen Schauspieler mitbrachten. Die Aufführungen mißglückten oder gelangen, aber sie waren immer groß, auch im Scheitern. Ein letztes Mal war das Theater an der Ruhr seiner Zeit voraus. Teatro Comico stammt aus diesen Zwischenjahren, meine Lieblingsaufführung bis heute, das federleichte Modell eines Theaters, wie ich es mir wünsche, Macbeth , auch Fritz Schediwys Inszenierung von Hamlets drittem Akt, in der Roberto Ciulli mitspielte und die er verachtete. Die Kritik reagierte mit Häme, die Zuschauerzahlen brachen ein, die Einladungen zu Gastspielen blieben aus, durch die das Theater sich finanzierte, die Konflikte innerhalb des Ensembles eskalierten. Es gab Gründe, nach Schediwys Hamlet die Reißleine zu ziehen und auf die alten Bahnen zurückzukehren. Nur schienen sie Veronika, ausgerechnet Veronika, nicht zu überzeugen. Auch mich hat der Hamlet mitsamt der Verachtung, die Ciulli mitspielte, mitsamt des Abgestoßenseins, das ich selbst empfand, mehr gepackt als alles, was ich seither in Mülheim sah.
    Ab und zu entdeckte ich ihren Namen in Kritiken von Aufführungen in Bochum, wo sie sich ein paar Jahre später dem Ensemble anschloß, oder in Filmrezensionen. Es las sich, als hätte sie weiterhin Erfolg. Ein Freund, der das Theater an der Ruhr ebenfalls verlassen hatte, fragte sie einmal, ob sie zufrieden sei. Ja, sagte Veronika so, daß die Sehnsucht nicht zu überhören war.
    Â 
    In einer leeren, tageslichthellen Halle mit kaltem Steinfußboden und strahlend weißgetünchten Wänden, die sich als Arbeitsraum eher für Hochseilartisten oder Monumentbauer eignet als für einen, der nur Worte aneinanderreiht, setzt Navid Kermani am Sonntag, dem 17. Februar 2008, um 12:55 Uhr den Punkt unter das vorige Kapitel und wechselt den Schrifttyp, während am Schauspielhaus Bochum die Gedenkfeier für Veronika Bayer stattfindet. Zwar ist die sechs Meter hohe Frontwand fast vollständig verglast, doch sind die Scheiben bis zur oberen Türkante milchig, damit niemand hineinsehen kann. Leider kann er umgekehrt nicht in den Park hinaussehen, der bezaubernd sein muß, viel zu kalt, die dreiflügelige Tür zu öffnen. So friert er wie in einer Leichenhalle, auf dem leeren, überdimensionierten Schreibtisch aufgebahrt seine Allmacht mit 23,5 Zentimetern so zierlich wie ein Totgeborenes. Er muß die Herausforderung annehmen, darf sich nicht verkriechen, was dich nicht umbringt, macht dich … und hat daher den Schreibtisch exakt in die Mitte des Raums gerückt, der auch ein Hangar für kleinere Flugzeuge sein könnte. Als Klang und Luft physisch ist die Erwartung zu spüren, daß an diesem Ort nur Großes entstehen dürfe. Die Architektur richtet sich an einen Typus des Künstlers als Schöpfergott, der für den Roman, den ich schreibe, nur noch grotesk erscheint, wie Hohn: der weitausholende Schwung des Pinsels, der Hammers sprengt den Stein, die Schreibfeder, die übers Papier rast, dämonische Schreie, Heureka! und Musenküsse, daß es nur so schmatzt. 13:24 Uhr, die Gedenkfeier müßte bald zu Ende sein, Navid Kermani sich beeilen, damit er wenigstens im Gebet teilnimmt, wo bestimmt niemand betet und allenfalls von Engeln gesprochen wird; Engel sind noch in Ordnung für eine agnostische Gemeinde von Künstlern und Kunstinteressierten im heutigen Westeuropa, Gott hingegen noch nicht ausreichend zur Märchenfigur herabgesunken.

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