Dein Name
ist vorbei. â Was ist vorbei? will Mirza Aziz wissen. â Alles, antwortet der Amtsleiter, meine Zukunft, mein Leben, alles ist vorbei, und murmelt wieder Sure 22,67: »Wer sonst erhört das Gebet des Bedrängten und nimmt hinfort das Ãbel?« Mirza Aziz schüttet die Schubladen auf dem Schreibtisch aus und wühlt in den Unterlagen, während er gleichzeitig mit dem Amtsleiter schimpft, daà Gott allein darüber entscheide, wann etwas im Leben vorbei ist, gar etwas Göttliches wie das Leben selbst, und der Mensch sich, solange er nicht von dieser in die andere Welt abberufen wird, die heilige Pflicht habe, nicht aufzugeben, sondern sich mit Kraft, Verstand und Gebeten zu bemühen, verteilt den Inhalt der Schränke auf dem Boden, der aussieht wie nach einem Raubüberfall, rückt den Schreibtisch zur Seite, den Schrank von der Wand, blättert kniend in den Papieren, den Ordnern, reiÃt Briefe und Umschläge auf â und findet! In einem Briefumschlag des Konsuls, darin eingewickelt in Tüchern eine Schatulle aus Holz, streichholzschachtelgroÃ, mit drei Edelsteinen: der Schmuck von Madame Carlier. Der Amtsleiter, der sich unter boîte eine richtige, schwere Kiste vorgestellt hatte, die nicht zu übersehen gewesen wäre, wird von einem solchen Weinkrampf gepackt, daà Mirza Aziz seinen jungen Chef fest in den Arm nimmt und lange drückt. Immer noch schluchzend und gleichzeitig lachend dankt der neue Amtsleiter Gott und dem Lagerverwalter. Bis zu dieser Stunde hielt er das Ritualgebet und die anderen Gebote nur unregelmäÃig ein, lustlos dazu. Jetzt will er das Versäumte nachholen, soweit er es kann, und seine Pflichten gegenüber dem Schöpfer und seinen Geschöpfen nie mehr vernachlässigen, soweit er es kann. »Es tut mir leid«, wird er mehr als fünfzig Jahre später notieren, »daà es mir mit all dem, was ich geschrieben habe« â und sein Bericht ist wesentlich ausführlicher als meine Nacherzählung â, »nicht gelungen ist zu veranschaulichen, was in mir vorging, welche Panik mich ergriffen hatte und wie glücklich ich jetzt war.« Mir wurde es anschaulich, GroÃvater. Unsicher, ob er sich verständlich gemacht hat, nimmt er einen neuen Anlauf, um die Bedeutung, die der Tag für sein Leben hatte, noch anders zu erklären: Selbst mehr als fünfzig Jahre später überwältigten ihn die Gefühle, wenn er jemanden davon erzähle, und manchmal müsse er weinen, mehr als fünfzig Jahre später wegen einer Kiste, streichholzschachtelgroÃ, auch jetzt, da er dies aufschreibe. Zum Schluà will er noch eine Frage stellen, keine Reflexion, keine halbe Seite, nur eine Frage: »Was machen Menschen in so einer Situation, die nicht an etwas Höheres glauben? Zu wem nehmen sie Zuflucht?«
Auf die vierundzwanzigstündige Liveaufnahme eines Aquariums im Zoo von San Jose, Kalifornien, hat die Nummer zehn genausowenig gewartet wie auf die sechs Programme des iranischen Staatsfernsehens. Albanisch kann er auch nicht. Neil Young, der vor lauter Enthusiasmus auf YouTube mit den Händen fuchtelt, den Oberkörper über den Tisch gebeugt, stutzt sein Genie auf den Begriff der Offenheit zusammen, Offenheit für das, was entsteht. Das Deutsche Sportfernsehen ist â illegal? â in Schweden und Bahrein verfügbar, jedoch nicht in Italien. Die holländische Firma schickt ihm eine Mail, sobald sie den Service ausgeweitet hat. Sie arbeitet hart daran, das Programm in immer mehr Ländern anzubieten, wie es in der Entschuldigung heiÃt, die als Pop-up auf dem Bildschirm erscheint. Er schlieÃt daraus, daà die Website erkennt, von welchem Land aus er sie anklickt. Ach, stimmt, er ist gläsern. Was wohl die Anstaltsleitung sagen wird, wenn sie sein Internetprotokoll studiert? Soviel Zeit der Enkel wieder vertan hat, so zügig will er die allzu vielen Seiten besorgen, die GroÃvater seiner restlichen Zeit in Bandar Lengeh widmet. Wieder überwarf er sich mit jemandem, diesmal mit dem Stellvertreter oder Nachfolger ( djâneschin kann beides bedeuten)des verstorbenen Monsieur Carlier, einem gewissen F-R-U . Ob es ein persischer Name ist oder die Transkribierung eines belgischen, wird mir nicht klar; auch hatte ich gedacht, GroÃvater sei der Nachfolger von Monsieur Carlier, und wenn Agha oder Monsieur F-R-U der Stellvertreter ist, müÃte GroÃvater dessen
Weitere Kostenlose Bücher