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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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gehört unter Gebildeten bald zum guten Ton, aus Europa allerdings auch der Zustrom rassischer Theorien, Araber und Juden sind plötzlich Semiten, was doch wohl noch gesagt werden darf, in den Cafés debattieren die Intellektuellen über Anarchie und Faschismus, Teheran entwickelt sich zu einer wirklichen Großstadt, Vervierfachung der Einwohnerzahl innerhalb von zwei Jahrzehnten auf siebenhunderttausend, die iranische Populärmusik mit ihrer Verbindung traditioneller Instrumente und westlichem Streichorchester bildet sich heraus, wie sie in ihren wesentlichen Elementen bis heute gespielt wird, indes seit der Islamischen Revolution nur noch im Exil, die Strophik, die Melodik und das Tremolo des iranischen Kunstgesangs so kühn wie selbstverständlich vermischt mit Chanson und Jazz, zwischen 1924 und 1929 vielleicht schon die ersten iranischen Filme, jedenfalls Kino, nehme ich an, Charlie Chaplin, Wochenschauen, was sieht man bloß Ende der zwanziger Jahre in Teheran?, eine Flut neuer Zeitungen, die Bildungsreformen, zu denen später das Verbot beziehungsweise die Verstaatlichung der ausländischen Schulen gehört, neue Lehreinrichtungen im ganzen Land, der Kampf gegen die Koranschule und jedenfalls auf dem Papier die Einführung der Schulpflicht, die Umbenennung vieler Städte und Provinzen, Arabistan zu Chuzestan, Enzeli zu Pahlewi, Loristan zu Kermanschah, Kurdistan zu West-Aserbaidschan, Urumiyeh zu Rezayeh, Mohammereh zu Chorramschahr und 1934 Persien zu Iran, die Entstehung einer modernen Verwaltung, eines Staatsapparats, der bis in die Dörfer vordringt, einer Armee, die Salut schießen kann, eines weltlichen Justizwesens und damit verbunden die Abschaffung der Scharia, die bereits 1907 vom gerade konstituierten Parlament beschlossene, erst 1928 durchgesetzte Gründung der Iranischen Nationalbank, auf die das britische Monopol übergeht, Geld zu drucken, entsprechend die Nationalisierung der indo-europäischen Telegraphiegesellschaft – alles das und noch viel mehr heißt es, zwischen 1924 und 1929 in Teheran zu leben, und nichts davon steht in Großvaters Selberlebensbeschreibung. Nicht einmal die Entlassung aller belgischen Berater in seiner eigenen Zollbehörde und die Benennung iranischer Direktoren hält er für erwähnenswert, die am vehementesten von seinem späteren Idol Doktor Mossadegh gefordert worden war. Ist Großvater seinem alten Direktor Doktor Jordan begegnet, der Reza Schah später in einem Brief anflehte, die Amerikanische Schule von der Nationalisierung auszunehmen, nach zweiundvierzig Jahren Dienst für Iran keiner Antwort gewürdigt wurde und verbittert nach Amerika zurückkehrte, um kurz darauf zu sterben? Großvater dürfte als Patriot die Nationalisierung der Bildungseinrichtungen befürwortet und sie als Schüler Doktor Jordans zugleich abgelehnt haben. Weder diesen noch irgendeinen anderen Konflikt, in den die Moderne ihn ganz persönlich brachte, spricht er an, nicht die neue Kleiderordnung, nicht die Emanzipation der Frauen und nicht die Revolution des Rechts, die er als frommer Muslim gefürchtet und als fortschrittsgläubiger Iraner zugleich ersehnt haben muß. Obwohl er täglich Einblick gehabt haben dürfte in das Neue der Zeit, als Beamter selbst jener Mittelschicht angehörte, die in Iran erst jetzt, mit großer Verspätung entstand, um sich in den dreißiger und vierziger Jahren gegen den Monarchen zu wenden, hat er aus den fünf Jahren in Teheran eine einzige Begebenheit zu erzählen, noch dazu rein privaten Charakters, aber von Großmutter handelt sie auch nicht: Ungefähr seit 1926 sandte der iranische Staat, genau gesagt das Kriegsministerium, junge Männer zum Studium nach Europa. Zu einer der ersten Gruppen gehörte auch Reza Rastegar, Großvaters junger Cousin. Eine Reise ins Land der Franken war damals für Iraner etwas Unerhörtes …
    Weiterhin markiert ein neuer Absatz keinen Wechsel des Gedankens oder des Motivs, sondern mal mehr, mal weniger konsequent einen Zeitsprung, bedingt meist durch den Stundenplan einer vierten Schulklasse in Rom, den Ankunfts- und Abflugszeiten einer Billiggesellschaft oder den Aktivitäten der eigenen Anstalt, die zunehmend lästig werden, abgesehen von der Dienstagsbegleitung die Freitagsbesprechung zur Ausflugs- und Empfangsplanung, dazu die Einübung in italienischer Lebensart, wie man sie sich in einer deutschen

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