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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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erklärte er seine Tränen und schlichtete zugleich den Streit der Eheleute: Und jetzt finde ich heraus, daß es auf der Erde auch Menschen wie Sie gibt. Doktor Hossein Sohrab gab dem Kameltreiber noch fünfzig Toman mit auf den Weg, heute ein paar Cents, vor siebzig Jahren ein Vermögen. Als die Großeltern 1963 die Eltern in Siegen besuchten, fuhren sie den weiten Weg nach Toulouse im Süden Frankreichs, wo Hossein Sohrab begraben war. Dort eingetroffen, fragte sich Großvater von Friedhof zu Friedhof durch, bis in einem der Totenbücher unter dem Buchstaben S endlich der Name Sohrab auftauchte, Hossein Sohrab. Der Friedhofsbeamte und der einarmige Wärter führten ihn zum Grab. Von den Gefühlen, die Großvater vor den beiden Franzosen überwältigten, sollte ein Muslim nichts sehen und ein Ungläubiger nichts hören.
    Unter dem Vorwand, sich auf Rom einzulassen, verdarb sich die Nummer zehn die Stimmung aufs beste im Freilichtkino, das die Nummer zwei auf der Promenade vor den Ateliers eingerichtet hatte. Es kommt immer schlimmer als befürchtet. Insofern sind die Fahrraddiebe eine fröhliche Absage an jedwede Form des Skeptizismus, weil der Film von Anfang an schon so abgrundtief traurig ist, daß man es für ausgeschlossen hält, er könne ohne jeden Hoffnungsschimmer enden, und am Ende ist der Vater, der auf der Suche nach dem gestohlenen, überlebenswichtigen Fahrrad Rom abgrast, auch noch ein überführter Fahrraddieb, der nur aus Mitleid mit dem Sohn laufengelassen wird. Wie reich Europa innerhalb weniger Jahrzehnte geworden ist, wie satt selbst jene Schicht aus den Trabantenstädten, in deren Alltag vor fünfzig Jahren der Neorealismus blickt. Die Armenviertel, in denen De Sicas Film spielt, sind heute gewöhnliche Wohnviertel des unteren Mittelstands, nicht reich, nicht arm, die aussehen, wie Rom überall aussieht, wo es nicht Rom ist, kilometerlang die gleiche Architektur, ganze Straßenzüge zur selben Zeit und im selben Ton neu gestrichen, mit je einer Bar dazwischen die übliche Abfolge aus Tabaccheria, Gelateria, Trattoria, Pizzeria und der Birreria. Das Italien des Neorealismus ist von der Innenstadt in die Nähe des Autobahnrings gerückt, die Protagonisten heute Roma, Albaner, Marokkaner, Nigerianer, Südasiaten. Selbst in einem besseren Viertel wie dem der Deutschen Akademie lungerten vor dreißig Jahren noch die Katzen herum, wie von Rolf Dieter Brinkmann zu erfahren, dessen Rom, Blicke sich die Nummer zehn zum zweiten Mal besorgt hat, »eine wilder als die andere, eine graue mit nur einem Auge, eine andere mit tiefer Wunde am Hals, rötlich-braunen Fell, sie liegen träge in der Sonne oder unter den abgestellten Wagen«, und kratzten sich die Italiener ständig am Sack, wie es ein paar hundert Kilometer südlich die Araber noch immer tun: »Sie verschieben ihre Schwengel ungeniert an jeder Stelle und jedem Ort zu jeder Zeit in den engen Hosen, und zwar auf eine klotzige Art, etwa so wie jemand klotzig in der Nase popelt, egal wo. Das zu sehen, zufällig, hat mich gelegentlich zum Kotzen gebracht. Die Häßlichkeit einer derartigen, bereits längst unbewußt und aller Scham entbehrend gewordenen Handlung ist kaum zu überbieten.« Man spricht von den Golfemiraten oder Fernost, aber Aufstieg bedeutet, daß man sich nicht mehr am Sack kratzt, genau dies, weil es in den Freizeit- und Anzughosen nicht zwickt oder sich im Schamgefühl die Bürgerlichkeit ausdrückt, die Menschen keineswegs besser macht, am größten stets die Abscheu vor denen, die sind, was man früher selbst war. Wie die Nummer zehn nach dem Film nach Hause schlenderte, saß vor der Nummer neun ein Gast aus der Holländischen Akademie an der Promenade, der von einem alten Haus in den Bergen berichtete, ökologisch saniert, Blick bis aufs Meer bei klarem Wetter, also fast immer, ringsum phantastisches Essen, phantastische Lebensmittel, phantastische Landschaft, daß die Nummer zehn schon fragen wollte, ob das Haus zu mieten sei. Nach einer Woche schmiß die durchgeknallte Nachbarin ihr Neugeborenes aus dem Fenster. Wirklich wahr, was immer Wahrheit in Wirklichkeit ist: eine dorfbekannte Psychotikerin, aus der Stadt ins Feriendomizil gezogen. Mit hundertzwanzig auf der Schotterpiste raste der niederländische Stipendiat zum nächstgelegenen Krankenhaus, auf dem Rücksitz eine Nachbarin mit dem Baby im

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