Dein Name
Ampel auf Rot schaltete. Nur daà vor allen Fenstern Gardinen hingen, irritierte ihn. Es ging ihm nicht darum, in die Wohnungen hineinschauen zu können. Er litt darunter, daà er nicht hinausschauen konnte. In Iran entzog man sich zu Hause zwar ebenfalls den Blicken der StraÃe, aber das lag an den Mauern rings um das Grundstück. Die Sicht aus den Fenstern war frei, drauÃen ein Garten und selten eine Tür geschlossen. GroÃmutter fand sich mit der versperrten Sicht nicht ab, wie sie und nach ihr meine Mutter überhaupt selten eine Widrigkeit hinnahmen. Mein Vater holte noch die Koffer aus dem Auto, da rià GroÃmutter bereits alle Fenster und Türen auf, selbst die Wohnungstür. »Ich ersticke!« rief sie immerfort mit ihrer schrillen Stimme, »ich ersticke!«, und: »Wie kann jemand nur in einem solchen Gefängnis leben?« Meine Mutter war entsetzt. »Bitte, liebe Mutter, reden Sie leise, die Nachbarn könnten uns hören, und schlieÃen Sie die Tür sofort wieder zu und, bitte, starren Sie vor allem nicht so aus dem Fenster. Was werden denn die Nachbarn über uns denken? Die rufen noch die Polizei!« »Die haben ja wohl einen Sprung in der Schüssel, diese Nachbarn!« schrie GroÃmutter so laut, daà man es gegenüber im St. Marien noch gehört haben muÃ: »Darf man denn hier nicht einmal in seinem eigenen Haus tun und lassen, was man will? Was hat es denn mit dieser groÃartigen Freiheit im Land der Franken auf sich, von der wir so viel gehört haben? Nicht einmal einen Tag könnte ich an einem solchen Ort überleben, nicht eine einzige Stunde. Ach, wenn ich sterben könnte für meine arme Tochter, die in dieses elende Gefängnis gesteckt worden ist.« Wer GroÃmutter nie kennengelernt hat, der wird die Formulierungen, die GroÃvater ausnahmsweise in wörtlicher Rede zitiert, vielleicht für übertrieben halten, irgendwie unecht; tatsächlich entsprechen sie exakt ihrem Duktus, in dem eine UnpäÃlichkeit zur antiken Tragödie geraten konnte. Meine Mutter redet, wenn sie erregt ist, noch als Fünfundsiebzigjährige genauso. Und wie gut kann ich mir deren Scham als Tochter vorstellen, kenne ich die Scham doch von mir selbst, wenn meine Mutter wieder etwas Peinliches tut, wie früher zum Beispiel, wenn sie nach der Sauna nackt durch den Garten unseres Hauses in Siegen lief, als sei sie im Isfahaner Hamam, und nebenan die Pietisten aus ihrem Gebetstürmen stierten, o Gott, wie fühlte ich mich blamiert und wie rege ich mich heute noch auf, wenn die Mutter im Restaurant kein Essen bestellen möchte, weil doch immer etwas übrigbleibe, und sich die Reste später auch noch sämtlich einpacken läÃt. Gewià spielte Standesdünkel in GroÃmutters Klage hinein, sah sie sich doch in ihrer Skepsis bestätigt, daà mein Vater strebsam und höflich sein mochte, wie er wollte, aber ein Sohn kleiner Leute blieb. AuÃerdem war sie von vornherein gegen die Auswanderung gewesen. Hätte der Schwiegersohn die Tochter wenigstens nach Frankreich gebracht, ach, nach Paris, in die Zivilisation jedenfalls und nicht in ein Industriegebiet, für das sie Deutschland bis an ihr Lebensende halten sollte. Dabei war es ein gemeinsamer EntschluÃ, wie meine Mutter stets betont, ohne je den Hinweis zu vergessen, daà den Ausschlag die Kinder gegeben hätten. Der stillschweigende Vorwurf GroÃmutters, daà mein Vater ihr die Tochter geraubt hätte, brachte sie schon 1963 auf die Palme. Meine Eltern müssen nur an unsere Geburtsjahre denken, um sicherzugehen, daà sie das Richtige getan haben: Bei vier Söhnen aus bürgerlichem Haus, die alle auf ihre Weise die Welt verbessern wollen, wäre es schon statistisch unwahrscheinlich gewesen, daà nicht wenigstens einer in der Revolution oder im achtjährigen Krieg verwundet, wenn nicht getötet worden wäre, wie zwei meiner Cousins im Gefängnis gelandet, womöglich gefoltert, hingerichtet oder gezwungen gewesen, unter den gefährlichsten Umständen aus dem Land zu fliehen, zu Fuà durchs wilde Kurdistan, in einem Lastwagencontainer nach Armenien oder durch die Wüste nach Pakistan. In jedem Fall hätten Revolution und Krieg uns wie die meisten bürgerlichen Familien auseinandergerissen. Die Entscheidung meiner Eltern hat uns vor dem bewahrt, was das Leben beinah aller Iraner unserer Generation bestimmte: vor
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