Dein Name
Mutter, als die GroÃeltern in Frankfurt landeten, aber GroÃmutter war enttäuscht, wie ärmlich alles war, eng wie in einem Gefängnis. Weshalb fragst du eigentlich?
In den darauffolgenden Tagen wurde der Gleichmut, den GroÃvater sich im Laufe des vorangegangenen Jahrzehnts endlich angeeignet hatte, allerdings erheblich strapaziert. Mir selbst ist es nie aufgefallen oder ich kenne es nur von den reunions , bei denen wir zuverlässig und beinah rund um die Uhr jedes ortsübliche Lärmlimit brechen, aber es scheint so gewesen zu sein, daà man in Iran lauter sprach, bevor die Kleinfamilie zur Regel wurde, vielleicht weil die Zimmer gröÃer waren oder Fenster und Türen offenstanden. Hinzu kam, daà es die GroÃeltern aus Isfahan unter allen möglichen Städten des Westens ausgerechnet nach Siegen verschlagen hatte, wo die Menschen so redselig sind wie in einem Taubstummenheim, so temperamentvoll wie auf einem Staatsbegräbnis und dem Fremden gegenüber so aufgeschlossen wie eine Betonwand, um es einmal so überspitzt zu sagen wie GroÃmutter 1963. »Wenn meine Frau oder ich sprachen, überstiegen unsere Stimmen aus Gewohnheit regelmäÃig die zulässige Lautstärke, und dann hielt augenblicklich eines der Kinder oder meine lieber Tochter den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete uns, leise zu sein. Viele Male geschah es, daà mein sieben- oder achtjähriger Enkel mir das Wort abschnitt, um mich im Tonfall des Tadels darauf hinzuweisen, daà sie doch nicht taub seien. Und wirklich schämten wir uns dann und versprachen, ab sofort leiser zu sprechen. Auch war es verboten, die Lautstärke des Fernsehers über einen bestimmten Pegel zu stellen, der an dem Regler mit Bleistift markiert war. Ich halte es für ausgeschlossen, daà irgendeiner der Nachbarn, über oder unter uns, nebenan oder gegenüber, je den leisesten Ton vernahm, dennoch lebte meine Tochter in ständiger Sorge vor Anzeigen wegen Ruhestörung und sogar vor der Polizei.« Mit der Zeit lernten die GroÃeltern allerdings die Vorteile jenes streng geregelten Siegener Lebens zu schätzen, das sie für das europäische hielten, und dachten beschämt und erschrocken an die Nächte in Isfahan zurück, in denen Hochzeitskolonnen von durchschnittlich fünfzig überfüllten Autos, viele Pick-ups darunter, trommelnd singend dauerhupend durch die Stadt kreisten und alle anderen Bewohner um den Schlaf brachten. Das geschah nicht hin und wieder, sondern jedes Wochenende mehrmals die Nacht. Die GroÃeltern dachten auch an die verzerrten Geräusche aus den Lautsprechern, die bei jeder Hochzeit, jeder Trauerfeier und jedem Märtyrergedenken bis zum Anschlag aufgedreht sein muÃten, als stellte man seine Freude, seinen Kummer oder seine Frömmigkeit dadurch unter Beweis, möglichst heftig an den Nerven seiner unbeteiligten Mitmenschen zu zerren. Deren Ruhe zu stören galt in Iran als normal und sogar geboten, wenn man selbst nur traurig, glücklich oder gottesfürchtig genug war, so schien es GroÃvater aus der Entfernung. Er wies GroÃmutter auch darauf hin, daà er erst kürzlich zweimal nachts bei der Polizei angerufen hatte, um sich über den Lärm zu beschweren, den die Nachbarn machten. Und was hatte der diensthabende Polizist geantwortet: Aber Herr Schafizadeh, es ist doch ein Fest! Und richtig, bei den Hochzeiten ihrer eigenen Kinder war es keineswegs zivilisierter zugegangen. Wie sie allein in der stillen Wohnung saÃen, mein Vater auf der Arbeit gegenüber im St. Marien, meine Mutter einkaufen, meine Brüder in der Schule oder im Kindergarten, schämten sie sich dann, auch GroÃmutter, daà das, was sie für normal gehalten, ja liebgewonnen hatten, in Wirklichkeit nicht anders als selbstsüchtig, rücksichtslos, ja barbarisch genannt werden konnte. »Ich sagte meiner Frau, daà wir gut daran täten, einmal darüber nachzudenken, ob diese vernünftig begrenzte Freiheit, die wir bei den Franken antreffen, nicht besser sei als die selbstsüchtige Anarchie, die wir aus Iran kennen. Es sind nämlich genau das Chaos, der Egoismus und die Menschenschinderei, die uns in den Abgrund getrieben haben. Wenn man es recht besieht, denkt bei uns jeder nur an sich selbst, an seinen eigenen, kleinen Vorteil statt an das Wohl seiner Mitmenschen. Dabei sind wir Muslime doch alle mit dem göttlichen Wort aufgewachsen,
Weitere Kostenlose Bücher