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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Leuten überbracht sind, erklärt sich Großajatollah Milani bereit, das Anliegen des Gläubigen zu hören. Der Gläubige bittet um die Erlaubnis, frei reden und alles aussprechen zu dürfen, was auf seinem Herzen lastet, selbst wenn es respektlos oder gar ketzerisch klingt. Großajatollah Milani fordert ihn auf, keinerlei Rücksicht zu nehmen und etwaige Kritik nicht aus Furcht zu mildern. »Bevor ich das Land der Franken bereiste, Euer Ehrwürden, stand es für mich außer Zweifel, den religiösen Führern zu folgen«, hebt der Gläubige an: »Ich tat es mit Inbrunst und Überzeugung, und ich bemühte mich, wenigstens einmal täglich zu einem Gemeinschaftsgebet in einer Moschee zu gehen, auch in der Fremde. Aber nach dieser Reise spüre ich den Wunsch nicht mehr. Soweit ich es gesehen habe, liegt ein wesentlicher Grund für die Rückständigkeit der muslimischen Gesellschaften im Versagen und in der Kurzsichtigkeit der religiösen Führer. Die religiösen Führer …« Großajatollah Milani schneidet dem Gläubigen das Wort ab und verlangt die Gründe zu erfahren, die zu dieser schwerwiegenden Anschuldigung führen, denn bestimmt habe der Gläubige Gründe. »Selbstverständlich habe ich Gründe«, versichert der Gläubige, der wie so oft schon im Leben von einer Ohnmacht in die andere fällt: »Soweit es dieser Sklave mit seiner eingeschränkten Wahrnehmung und seinem ungenügenden Verstand erkennt, haben die christlichen Gesellschaften den Geist und die Seele der heiligen islamischen Lehren und Gesetze verwirklicht, während sich die Muslime aufgrund ihres eigenen Versagens und der Unzulänglichkeit ihrer Führer mit den äußeren Buchstaben begnügen, deren Bedeutungen sie nicht einmal verstanden haben. Die Grundsätze der Religion mißachten sie und halten sich statt dessen an der Hülle fest, den Regeln, Strafen und Sitten. Zerstrittenheit und Fanatismus sind die Folge. Wenn Sie von ein, zwei Eigenheiten der Franken absehen, von ihrem seltsamen Umgang mit Hunden zum Beispiel oder den Übertreibungen im Verhältnis von Mann und Frau, die aus Sicht des Islam nicht zu akzeptieren sind, finden Sie in den christlichen Gesellschaften die Lehren, Ideale und überhaupt den Geist des Islam. In den muslimischen Gesellschaften finden Sie vom Islam hingegen leider nur die Buchstaben und Gesetze. Und die religiösen Führer …« Wieder unterbricht Großajatollah Milani den Gläubigen und fordert ihn auf, konkrete Beobachtungen zu nennen, die sein Urteil belegen. Der Gläubige zählt alles auf, der Reihe nach, ohne ein weiteres Mal unterbrochen zu werden: das Wechselgeld und die Aufrichtigkeit der Franken, die Campingplätze und ihre Rücksichtnahme, die Krankenhäuser und der Stand ihrer Wissenschaft, die Busse und ihr Respekt gegenüber den Alten, die Bürgersteige und ihr Gemeinsinn, die Ampeln und ihre Gesetzestreue, die Gerichte und ihre Unbestechlichkeit, der Genfer See und ihre Reinlichkeit, die Küstenwache und ihre Rechtsstaatlichkeit, die Friseure und ihre Höflichkeit, die späteren Orthopäden und ihre Genügsamkeit, die Autopanne und ihre Hilfsbereitschaft, der Knirps und ihre Korrektheit, das Behindertenheim in Nuren Bergeh und ihre Barmherzigkeit, die Kirchen und ihre Toleranz. Und als Großajatollah Milani ihn nach zehn, fünfzehn Minuten noch immer aufmerksam anblickt, fügt der Gläubige die Meinungsfreiheit hinzu, die im Land der Franken herrsche, die Demokratie und die Würde des Menschen, jedes Menschen, gleich ob Mann oder Frau, alt oder jung, behindert oder unversehrt, gleich welcher Hautfarbe und Religion – sei es denn dem Propheten und den Imamen, Gott segne sie und schenke ihnen Heil, je um etwas anderes zu tun gewesen?
    Als der Gläubige, der aus dem Land der Franken zurückgekehrt ist, alles ausgesprochen hat, was auf seinem Herzen lastet, starrt er auf den Teppich und hört lange Zeit nur das Gemurmel aus dem Erdgeschoß und seinen eigenen, schweren Atem. »Verehrter Herr«, löst Großajatollah Milani endlich das Schweigen auf, »sosehr ich es bedauere, scheinen mir Ihre Argumente sehr einleuchtend zu sein und muß ich Ihnen wohl recht geben. Ich habe solche und ähnliche Schilderungen schon von vielen Freunden gehört, die bestätigen, was Sie berichten, und auch das bestätigen, was Sie sich

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