Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
Aurelia Richtung Rom in der Hoffnung, daß der Papst persönlich ihn begnadige, erkrankte und starb einen gewöhnlichen Tod, was auch für Kunstgeschichtler elendig ist. Als wir in Neapel eintrafen, ahnten wir nicht, daß wir das Martyrium der heiligen Ursula sehen könnten, daß mich schon aus Lokalpatriotismus so sehr interessierte. In den Büchern stand nur etwas von Privatsammlung, der Kunstführer enthielt keinen Hinweis, auch unsere Gastgeberinnen wußten nichts. Nur weil wir trotz des strömenden Regens die Bushaltestelle suchten, statt für ein paar Euro ein Taxi den Berg hinauf zum Capodimonte zu nehmen, entdeckten wir im Schaufenster einer Bank den Hinweis, daß hier nach vielen Jahren erstmals wieder das letzte Bild Caravaggios der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werde, wie der Geschäftsbereich Kunstförderung protzig verkündete, obwohl der Kunstgeschichte zufolge noch zwei Werke folgten. Seit Das Martyrium der heiligen Ursula restauriert wurde, übertrifft Ursula an Schönheit sogar die Madonna der Pilger , der sie nicht mehr nur wegen ihrer fleischigen Hände gleicht. Vielleicht malte Caravaggio aus der Erinnerung und dem Schmerz das frühere Modell noch einmal, wegen dem er sich 1605 mit einem Notar auf der Piazza Navona geprügelt hatte, ein Traum von einer Frau, mit der vielleicht nicht der Papst, aber Könige, Königssöhne und auch Caravaggio gern ein Kind gezeugt hätten. Selbst der Soldat neben ihr ist nicht mehr nur Rüstung, seit Das Martyrium der heiligen Ursula restauriert wurde. Er scheint nicht zu begreifen, daß sie in ihrem Eigensinn tatsächlich bis zum Äußersten gegangen ist, statt sich wie jeder vernünftige Mensch dem weltlichen Herrscher zu fügen, schon gar wenn sie im Bauch ein Kind getragen hätte. Schimpft der Soldat mit ihr, wie ich mit der Frau immer schimpfte, bevor sie zusammenbrach und mit ihr die Welt meiner Erscheinungen, hat er ihr eine Frage gestellt? Wenn sie gleich zu Boden stürzt, wird er sie auffangen. Seit Das Martyrium der heiligen Ursula restauriert wurde, ist schließlich der Mörder als Liebender erkennbar, in Raserei versetzt, da die Geliebte ihn abwies. Ist Ursula Sinnbild des Göttlichen, zerstört er es, weil er zu sehr begehrt. Zugleich wird seine Hand von Gott geführt, der ihm eine Ursula zugeführt hat, Orsola, schöner als eine Madonna, mit der sogar ein anderer, der überweltliche Herrscher ein Kind zeugte, wenn das nun keine Einbildung ist. Es soll nicht sein! ruft das Bild, eine solche zu töten, es soll nicht sein, was sich nicht mehr verhindern läßt.
    Wahrscheinlich war es gut, daß Großvater unterbrochen wurde, sonst hätte er in seiner Erregung womöglich weitere Neuerungen des islamischen Rechts vorgeschlagen. Es erscheint mir bemerkenswert genug und für das allgemeine Publikum, das Großvater im Auge hatte, absolut von Interesse: Noch in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hielt einer der führenden, wenn nicht der führende Geistliche Irans die Verhältnisse in Europa für so vorbildlich, daß er plante, ein Stipendienprogramm für Seminaristen und Prediger aufzulegen. So weit ging nicht der Schah, sondern sein theologisch ranghöchste Gegner, Lehrer vieler Ajatollahs, die später die Islamische Revolution anführten, und auch des jetzigen Revolutionsführers, der 1963 neben Großvater gebetet haben könnte und bis heute die Romane von Albert Camus wohlwollend erwähnt. »Die Weite des Denkens, die Offenheit für das Fremde und die Milde jenes höchststehenden Gelehrten, der Kritik nicht nur erlaubte, sondern einforderte, beschämten mich zutiefst. Ich bitte die Seele des Verstorbenen, die voll göttlicher Gnade ist, um Verzeihung für meinen Übermut und bete an der göttlichen Türschwelle, daß dieser Quelle der Nachahmung die ehrwürdigsten Ränge und die größtmögliche Annäherung an beide Erkenntniszustände zuteil werden mögen.«
    Auch nach seiner Rückkehr aus dem Land der Franken ging Großvater nach Möglichkeit täglich, aber mindestens freitags zum Gemeinschaftsgebet in die Moschee, mochten seine weltläufigen Standesgenossen die Nase rümpfen, wie sie wollten. Das war keine Flucht in die Tradition, keine Absage an den Fortschritt, für den er das Land der Franken pries, keine Jubelfrömmigkeit. Für seinen eigenen

Weitere Kostenlose Bücher