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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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sogar diese, ihrer ganzen Geisteshaltung, Erziehung und theologischen Tradition nach unpolitischen Ajatollahs sich regen, wenn sie aufbegehren, wenn sie verkünden, die rote Linie sei endgültig überschritten – wie weit muß die Islamische Republik gegangen sein? Am Ende des Videos spricht der Traditionalist die Vertreter der Staatsgewalt direkt an: »Seid ihr hier, um der Nation zu dienen oder um die Kinder der Nation zu töten? Seid ihr hier, um Armut und Drogensucht zu bekämpfen oder um die Nachfahren des Propheten zu vernichten?« Immer schriller wird die Stimme. Abwechselnd streckt er beim Reden die linke und rechte Hand in die Höhe. »Der Islam verübt kein Unrecht. Der Prophet ist kein Unterdrücker. Gott stiehlt den Menschen nicht das Brot.« Die Sicherheitskräfte, die in diesem Augenblick ihr Gewehr auf ihn und seine Anhänger richteten, sollten wissen, daß er sowenig wie seine Väter bereit sei, den Islam zu verkaufen. »O Leute der Nachbarschaft, ihr sollt bezeugen, daß ich wie meine Väter bereit bin zu sterben, damit der wirkliche Islam bleibt. Sind wir denn Terroristen?«
    Nicht nur ich habe mir die Frage gestellt, warum Großvater Großajatollah Milani die Hand küßte, wo doch nicht nur er selbst, sondern schon sein Vater sich die Geste verbeten hatte. »Meine dritte und jüngste Tochter, die diesem Sklaven die Freude bereitet, abends nach den Zetteln zu fragen, auf die er tagsüber seine Müßigkeiten kritzelt, meinte nach der Lektüre des letzten Abschnitts, daß Sie, verehrte Leser, die Handküsse, die Teilnahme am Gemeinschaftsgebet und ähnliches für Gleisnerei halten würden. Sei es nicht besser, so fragte sie mich, von der Erwähnung solcher Verhaltensweisen abzusehen, die heute nicht mehr üblich seien und auf eine rückständige Gesinnung deuteten. Freiheraus schlug sie vor, die betreffenden Sätze ersatzlos zu streichen. Ich war sehr glücklich über die Kritik, darin sich ihre Aufmerksamkeit bewies, und bat sie, mir künftig jeden Abend ihre Meinung zu meinen Notizen zu sagen. ›Du mußt wissen‹, fuhr ich fort, ›daß die Verabscheuung der Gleisnerei der Schutz vor den Gleisnern ist. Da du erkannt hast, daß dein Vater sich gleisnerisch verhalten hat, wirst du es ihm Gott sei gepriesen nie nachtun.‹ Da sie mich kenne, würde sie niemals so etwas über mich denken, widersprach sie mir, aber was sei mit den anderen Lesern, wenn die Memoiren erst einmal in den Buchhandlungen auslägen? ›Licht meiner Augen‹, antwortete ich, ›die Werke sind niemals unabhängig von den Absichten zu betrachten, mit denen sie verrichtet werden. Wenn jemand etwas mit guter Absicht tut und nichts anderes möchte, als seinen Nächsten zu dienen und Gott zu erfreuen, können die anderen Menschen denken, was sie wollen, es wird das Wesen seiner Tat nicht verändern. Umgekehrt nützt alles Lob der Menschen nicht, wenn die Absicht unlauter ist. Es ist nicht wichtig, was sie sehen, sondern was Gott sieht. Abgesehen davon, meine geliebte Tochter, was könnte eine so häßliche Sünde wie die Gleisnerei anderes zur Folge haben als einem gebrechlichen Greis, der die letzten Worte an seinem eigenen Grab spricht, die schwere Bürde seiner Frevel noch zu vermehren, mit denen er vors Gericht treten wird.‹«
    Als der Romanschreiber anfing, hatte er keine Absicht, als der Toten zu gedenken. Aber wie? Weil er nichts weiterwußte, fing er mit dem Nächstliegenden an: der Verabredung in einer halben Stunde, überhaupt die Zeit, immer die Gegenwart, wenn es um die Tod gehen sollte, das klingelnde Telefon, was gerade im Radio lief, seine Erektion und die lecke Waschmaschine, mehr als nur Streit in der Ehe und die leeren Regale im neuen Büro, das eine Wohnung werden konnte, die Schreibtischplatte mit Jean Paul als Stütze und als letzten Satz oft, daß er aufhören müsse, um die Tochter von der Schule abzuholen, die Frau in der Klinik zu besuchen oder eine Meinung abzugeben. Weil er nicht mehr suchte, keine Form zu erfüllen suchte wie in den Romanen, wie er sie früher schrieb, oder wie jeder Zeitungsartikel ein Formular ausfüllt, stellte sich eine Sprache ein, die sich in ihrer Gewöhnlichkeit an die Welt rings um sein Ich zu schmiegen schien (inzwischen relativiert er das). Selbst die Berichte für die Zeitung schrieb er so und

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