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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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der einfachen Bevölkerung immer noch verbreitete Haltung der schiitischen Orthodoxie, die sich seit jeher für die Trennung von Staat und Religion ausgesprochen hat. Vergleichbar jenen ultraorthodoxen Juden, die den Staat Israel ablehnen, wesentlich zahlreicher indes verwerfen sie alle menschlichen Versuche, die göttlich-gerechte Ordnung auf Erden zu errichten. Statt dessen warten sie auf das Eintreffen des schiitischen Messias, des Mahdi, dem allein es zukomme, Gottes Reich auf Erden herbeizuführen. Bis dahin hängen sie einem strikten Quietismus an; da in Abwesenheit des Mahdi jegliche politische Herrschaft illegitim sei, sollten die Schriftgelehrten sie den Laien überlassen, um sich nicht zu beschmutzen. Eine von Menschen geschaffene »Islamische« Republik ist für diese Traditionalisten Ketzerei. Weil sie sich für die Ablehnung des gegenwärtigen iranischen Staatsmodells auf die schiitische Lehre berufen, sind sie besonders gefährlich – und werden seit Beginn der Islamischen Republik konsequent verfolgt, sobald sie ihr zurückgezogenes, vor allem rituellen und ethischen Fragen gewidmetes Gelehrtenleben aufgeben, um gegen die Staatstheologen aufzubegehren. Später ist auf dem Video zu sehen, wie der Traditionalist vor die unüberschaubare Menge tritt, die sich inzwischen vor seinem Haus gebildet hat, vor Alte, Junge, Männer und Frauen. Er trägt nur ein weißes Gewand, nicht den schwarzen Turban, der ihn als Nachfahren des Propheten ausweist. Für einige Sekunden könnte man meinen, er sei eben erst aus dem Schlaf erwacht, die Haare ungekämmt, der lange, schwarzgraue Bart zottelig. Dann wird klar, daß der Traditionalist das Totenhemd übergezogen hat, mit dem Muslime begraben werden, ein schlichtes Baumwolltuch ohne Naht. Seht her, soll es bedeuten: Ich habe keine Furcht. Bereits in den neunziger Jahren ist er mehrfach verhaftet worden. Sein Vater, ebenfalls Ajatollah, starb 2002 unter mysteriösen Umständen. Die Nur-Moschee, in der schon sein Großvater dem Gebet vorstand, wurde enteignet, das Grab seines Vaters entweiht. Der Traditionalist wirft den Staatstheologen nicht nur die Verhaftung und Folterung zahlreicher Anhänger vor. Weibliche Familienangehörige seien im Gefängnis vergewaltigt und in entwürdigenden Situationen gefilmt worden. Wieder später hält der Traditionalist ein Mikrophon in der Hand. »Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen«, wendet er sich an seine Nachbarn, bei denen er sich für die Ruhestörung entschuldigt: »Sie sollen wissen, daß Mitarbeiter des Geheimdienstes vor einer Stunde unser Haus gestürmt haben. Sie sollen wissen, daß die Sicherheitskräfte alle Zufahrten gesperrt und sich formiert haben, um uns anzugreifen und mich zu töten. Sie sollen wissen, daß wir gegen die Vermischung von Politik und Religion sind. Wir wollen nicht Menschen Unrecht zufügen im Namen Gottes. Wir wollen nicht die iranische Nation zerstören im Namen Gottes.« Jeden Tag würden zwanzig, dreißig seiner Anhänger verhaftet und in den Trakt 209 des Evin-Gefängnisses gebracht, den Trakt mit den Folterern. Versuche der Staatstheologen, ihn mit Lockungen zum Einlenken zu bewegen, seien sinnlos: »Schon meine Väter vertrugen sich mit keinem Staat.« Mit seinem Bart, der tief ins Gesicht reicht, sieht der Traditionalist aus, wie sich der Westen Haßprediger oder Terroristenführer vorstellt, auch im Tonfall, der Wut. Er ist kein eloquenter Intellektueller, kein wohlgekleideter Moderater. Das menschliche Antlitz des Islam, das er verkörpert, ist kein bißchen adretter als das seiner Gegner, die ihn umbringen wollen. Man vergißt heute oft, daß Chomeini vor der Revolution als radikaler Erneuerer, als »Befreiungstheologe«, wahrgenommen wurde, weil er die messianische Verheißung bereits in der realen Geschichte verwirklichen wollte. Er selbst sagte vor seinem Tod, daß sein eigentlicher Kampf nicht dem Schah oder Amerika gegolten habe, vielmehr dem schiitischen Klerus. Der Traditionalist steht für den Islam von nebenan, den Chomeini bekämpfte und Großvater verachtete, in gesellschaftlichen Fragen reaktionär, patriarchalisch und dem Fortschritt feind, aber eben auch antipolitisch und dezidiert gewaltfrei. Es gibt ihn noch immer, nach inzwischen beinah dreißig Jahren politischer Umerziehung in den Theologischen Hochschulen des Landes. Wenn

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