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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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nicht einfach kappen dürfe. Urgroßvater, der das hörte, wurde unruhig. Mit einer Zunge, die die Konsonanten zu Brei rührte, und Augen, die sich in ihren Höhlen mitdrehten, gleichwohl entschieden in der Sache, hauchte er: »Schämst du dich nicht, Sohn? Wer ist dein Vater, daß du mit ihm verbunden bist? Seit wann leben Väter ewig, daß ausgerechnet dein Vater ewig leben sollte? Binde dich an den Gott deines Vaters.« »Ihr Zustand ist nicht so schlecht«, schaltete sich Doktor Mirza ein: »Fürchten Sie sich nicht, in ein paar Tagen gehen Sie schon wieder baden, und dann wird es Ihnen Schritt für Schritt bessergehen.« – »Ich fürchte mich nicht vor dem Tod«, deutete sich auf Urgroßvaters Gesicht ein Lächeln an. Dann zitierte er einen Lieblingssatz der Sufis: »Ich starb, als ich geboren wurde.« Urgroßvater blickte seine beiden Söhne an, Großvater und Mohammad Ali: »Vergeßt niemals Gott. Meidet das Böse. Erfüllt eure Pflichten gegenüber dem Schöpfer und den Geschöpfen. Ehrt eure Mutter. Hadert niemals mit euren Geschwistern wegen Geld oder anderen Gütern der Welt. Diese Welt hat keinen Wert.« Dann schwieg er lange Zeit, schaute in die Gesichter. In seiner letzten Kraftanstrengung murmelte er auf arabisch in erstaunlicher Verständlichkeit den Refrain aus Sure 55: »Was auf der Erd’ ist, muß vergehn, / Und nur das Antlitz deines Herrn wird bestehn, / Das herrlich ist zu nennen, / Welche Gnad’ eures Herrn wollt ihr verkennen.« Am selben Nachmittag starb Urgroßvater. »Er schloß seine Augen vor dieser Welt und trat in die Nachbarschaft der Barmherzigkeit des Wahrhaften ein«, wie es Großvater formuliert, ohne daß es auf persisch schwülstig klingt oder ungelenk wegen des doppelten Genitivs, den ich in der Übersetzung ausnahmsweise beibehalten habe. Das Verb ist peywastan , »sich vereinigen, sich anschließen«, und korrespondiert mit alâqeh dâschtan , wie mir gerade auffällt; es drückt das Vertrauen aus, aus der einen in die andere Verbundenheit überzugehen. Du bist nicht allein. Das ist im Kern, was ein religiöses Weltbild ausmacht: Niemals und nirgends bist du allein. Das ist nicht nur tröstlich, es kann auch beengend, ja beängstigend sein: Gott sieht dich. Aber Gott ist der Erbarmer, der Barmherzige. »Sprich: Ihr, meine Diener, die ihr euch übernahmt an euren Seelen, verzweifelt nicht an Gottes Gnade! Gott verzeiht die Sünden alle«, zitiert Großvater zum Schluß des Abschnitts Sure 39,52. Den Chef der Gesundheitsbehörde hätte Onkel Mohammad Ali nun wirklich nicht mehr hinzuziehen müssen. Eine so absurde Prognose hat der alte Mirza Scheich Chan Hafez os-Sehhe, der »Wächter der Gesundheit«, bestimmt nicht gegeben, wenn es nicht nur ein billiger Trost war.
    Daß er sich an niemanden wendet, ohne die Aussicht auf eine Veröffentlichung schreibt, hat zur Folge, daß er sich mehr Gedanken als je über Sie, großgeschrieben, macht. Wie der Schauspieler erst beginnt, wenn einer, und sei es eingebildet, ihm zuschaut, existiert der Romanschreiber nur durch Sie. Indem er Sie ignoriert, sind Sie schon da. Wenn er Sie weit in die Zukunft rückt, versucht er, Sie wenigstens sich vom Leib zu halten. Wenn er Sie als einen bestimmten Menschen sich vorstellt, als den Bildhauer in München und die Gnädige Frau zum Beispiel, den Verleger, die Frau, die er liebt, oder den Kollegen, der ihn auf der ersten Seite besuchte, um den literarischen Salon zu besprechen, den sie diese Spielzeit moderieren, versucht der Romanschreiber, Sie zu überschauen. Aber Sie sind größer. Sie lesen den Roman, den ich schreibe, im Zug, vorm Einschlafen oder am Strand, während Ihre Kinder toben, finden seine Überlegungen anregend, langweilig oder bedauernswert, haben heute gern gelebt oder auch nicht, sind gut zu Ihren Nächsten gewesen oder hatten Streit, von dem Sie dem Romanschreiber gern erzählen würden, der Ihnen nach hundert Seiten schon etwas vertraut ist, von Ihrem Mann oder Ihrer Frau, Ihrem Freund oder Ihrer Freundin, was Ihnen durch den Kopf ging, als Sie das letzte Mal mit ihm oder ihr geschlafen oder heute gefrühstückt haben, würden dem Romanschreiber vielleicht von Ihren kranken, sterbenden oder toten Eltern erzählen, wann Sie das letzte Mal von ihnen im Arm gehalten wurden, ob Sie bereits die

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