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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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schlafen kann der Sohn nicht. Mitten in der Nacht steht er auf und tritt hinaus in den Hof, schreitet wie ein Irrgewordener barfuß auf den eiskalten Fliesen auf und ab, heult Rotz und Wasser, bis er schließlich erschöpft und halberfroren auf die Knie fällt. In einem Zustand, den er nach eigenen Worten nie wieder erleben sollte, »einem zustandslosen Zustand«, wie er ihn später wörtlich nennen wird, tritt er vor den göttlichen Palast und bittet, vom eigenen Leben zehn Jahre abzuziehen und sie dem Leben des Vaters anzuhängen. Erst die zärtliche Stimme der Mutter, die meine Urgroßmutter wird, bringt den Sohn zur Besinnung. In der Dunkelheit kniet sie sich neben ihn, nimmt ihn in den Arm und führt ihn zurück an den Korsi . Am nächsten Morgen kommt Hafez os-Sehhe wie jeden Tag zu Besuch, nur daß sich diesmal sein Gesicht aufhellt und er ein hoffnungsfrohes Murmeln ins Bulletin einflicht. Später wird der Sohn nicht verbergen, das Geständnis sogar als Pflicht bezeichnen, daß er die Genesung des Vaters zunächst keineswegs dem Gebet zuschreibt oder er den Zusammenhang jedenfalls stark bezweifelt. Erst im Laufe der Zeit und mit zunehmender Erfahrung, dank der Veränderungen auch des eigenen Geistes, wird er die Heilung mit Augen sehen, die das Wunder erkennen. Gott hat nicht wie ein Krämer gerechnet. 1931 starb Urgroßvater, deutlich mehr als zehn Jahre nach der ersten Lungenentzündung. Großvater wurde die Zeit nicht abgezogen, so sehr er sich das zum Ende hin wünschen sollte. Der Enkel war nicht mit dem Schwippschwager im Kino, sondern blieb im Büro, wo die Frau gegen 21 Uhr sämtliche Werke, Briefe und Dokumente Hölderlins von der Tischplatte des Schreiners wischte, dem Gott ein langes Leben schenken möge. Gesunde Kühe, gesunde Milch, quittierte der Enkel gegen 23 Uhr spitzbübisch die Bemerkung der Frau, daß der Sex zwischen ihnen zur Zeit besonders schön sei. – Wie bitte? fragte sie erschrocken nach, während er die gesammelten Werke von Hölderlin auflas. Wie in der Werbung, für ökologische Landwirtschaft oder ähnliches: Gesunde Umwelt ergibt gesunde Nahrung. Da schmunzelte auch die Frau. 120 Minuten, behauptet also der Enkel, der Orientale geblieben ist.
    Nach der Beerdigung erzählte Großvater seinem Bruder von dem Geschäft, das er während der ersten Lungenentzündung Urgroßvaters Gott vorgeschlagen hatte. Sofort brach Großonkel Mohammad Ali in Tränen und Wehklagen aus: »Es ist meine Schuld«, rief er, »es ist meine Schuld! Diesmal wäre ich an der Reihe gewesen, an die göttliche Türschwelle zu treten, damit Vater länger lebt.« Vielleicht aus Angst, er könne sich etwas antun (Großvaters Selberlebensbeschreibung ist an dieser Stelle nicht ganz deutlich), verabreichte Hafez os-Sehhe Großonkel Mohammad Ali über Wochen oder Monate Valium und wagten es seine Freunde nicht, ihn auch nur eine halbe Stunde allein zu lassen. Großvater machte sich den Vorwurf, für die Depression seines Bruders verantwortlich zu sein, wie er sich oft für anderer Unglück verantwortlich fühlte – zu Unrecht, scheint mir hier: Schon als Urgroßvater im Sterben lag, kam Onkel Mohammad Ali nicht mit dem Leben zurecht. Die Angehörigen und einige Freunde Urgroßvaters saßen und standen betend im Zimmer, als er mit dem Chef der Gesundheitsbehörde von Isfahan das Zimmer betrat, Doktor Abdolali Mirza, wenn Großvater den Namen richtig behalten hat. Ausnahmsweise ist er sich nicht sicher. Wenn man stirbt, nicht erst im Grab, wird man in Richtung Mekka gebettet, erfahre ich nebenher. Sobald man es umstellt, ist es ein Totenbett. Als Doktor Mirza Urgroßvater untersuchte, brach Onkel Mohammad Ali in Tränen aus. – »Herr Doktor«, schluchzte er laut auf und faßte Doktor Mirza am Arm, »Herr Doktor, wir lieben diesen Vater sehr.« Alâqeh dâschtan ist das persische Verb, wörtlich »eine Verbindung haben«, das sich vom arabischen ’aliqa ableitet, »aufgehängt sein, aneinanderhängen«, wie Glieder einer Kette, damit sie besser hält. Onkel Mohammad Ali sprach nicht von dust dâschtan , »lieben«; indes klingt »Verbindung haben« im Deutschen zu schwach, zuallgemein. Man ist mit allen möglichen Leuten verbunden. Großonkel Mohammad Ali meinte die geradezu physische Verbindung, die der Tod doch

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