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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Flüchtlinge in dem Auffanglager, das dem Gesetz nach nur für einen Aufenthalt von höchstens zweiundsiebzig Stunden vorgesehen ist, nicht mehr eine Woche, sondern über Monate den Lagerdirektor Primi, Secondi, Dolce jubeln hören und der Bürgermeister bald wieder klagt, daß die armen Schwarzen nicht sauber werden, wenn sie sich waschen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Großvater seine Bauern brutal oder auch nur unhöflich behandelte. Allerdings habe ich ihn erst als Greis erlebt, noch dazu mit den Augen des Kindes. Dennoch: Daß Großvater ein solcher Großgrundbesitzer war, wie ihn die Außerparlamentarische Opposition in Deutschland vor Augen hatte, würde allem widersprechen, was ich auch zwischen den Zeilen der Selberlebensbeschreibung lese und über ihn gehört habe. Richtig freilich ist – er führt es selbst zur Verteidigung an –, daß Tschamtaghi ausschließlich ihm gehörte und durch diese Akkumulation von Kapital, Boden und Wasser »die soziale und wirtschaftliche Übermacht des Grundherrn so groß (war), daß letzterer unbeschränkt schalten und walten« konnte, wie die Zeitschrift für ausländische Landwirtschaft feststellt, oder jedenfalls gewaltet haben könnte. Am hohen Ertragsrisiko waren seine Bauer gewiß ebenfalls beteiligt, ohne die Nutzungsrechte am bewirtschafteten Land oder ein Verfügungsrecht über die Ernte zu besitzen. Die fünfundzwanzig Prozent, die Großvater ihnen nach eigenen Angaben vom Ertrag überließ, sind nicht nur wenig; sie liegen noch unter den dreißig Prozent, die nach Angaben der Zeitschrift für ausländische Landwirtschaft iranischer Durchschnitt waren. Und dann zu den Krediten, die Großvater so großzügig gewährte: Die iranischen Bauern erhielten ihren Lohn erst nach Verkauf der Ernte und waren daher fast jedes Jahr gezwungen, einen Vorschuß vom Gutsherrn zu nehmen. Immerhin hielt Großvater sich an das islamische Zinsverbot. Wenn Bauern anderer Grundherren ihren Kredit einmal nicht zurückzahlen konnten, weil die Ernte schlechter als erwartet ausfiel, erhöhte sich der Betrag durch die Zinsen derart, daß auch eine gute Ernte im nächsten Jahr nicht ausreichte. So gerieten sie in eine Abhängigkeit, der zu entrinnen sie keine Chance hatten. »Der Grundherr betrachtete den Anteilseigner in Wahrheit als einen Packesel, dessen einzige Aufgabe es ist, ihm einen Profit zu verschaffen, und der, wenn anders als mit Strenge behandelt, den Grundherrn um seinen vollen Ertragsanteil betrügen will«, nimmt selbst die Zeitschrift für ausländische Landwirtschaft einen aufrührerischen Ton an. Die Bauern mußten nicht nur die Ernte abführen, sondern zusätzlich den Vogt sowie den Dorfgeistlichen bezahlen und waren verpflichtet, Fronarbeit und Spanndienste für den Grundherrn zu leisten. Das Durchschnittseinkommen einer Bauernfamilie betrug nach Angaben des iranischen Landwirtschaftsministeriums zwischen 46,5 und 133 Dollar – im Jahr. Ich sollte das nicht aus den Augen verlieren, wenn ich die Islamische Republik beurteile, mich über die Tyrannei ereifere, über die Zersiedelung der Landschaften jammere, die Verschandelung der Städte anprangere und mich über das Du in den Behörden beschwere, in dem sich die Umkehrung der sozialen Hierarchie ausdrückt; anders als meine Mutter sollte ich den erbärmlichen Zustand der Bauern bedenken, wahrscheinlich auch Großvaters Bauern, wenn ich von den Ausflügen nach Tschamtaghi schwärme, unseren eigenen Ausflügen und mehr noch den Ausflügen zu einer Zeit, als die Familie noch mit der Kutsche fuhr.
    Wenigstens erfahre ich, was es mit Kartschegan und Berendschegan auf sich hat, den beiden Dörfern, von denen die Verwandten oft sprachen, wenn wir nach Tschamtaghi fuhren. Obwohl von der Selberlebensbeschreibung nur noch wenige Seiten bleiben und ich mich vor dem Ende beinah fürchte, so sehr habe ich mich an die Tage mit Großvater gewöhnt, fasse ich die ausgedehnten Schilderungen nur zusammen, da sich mir bei aller Liebe kein Grund erschließt, die Besitzverhältnisse zweier Weiler fünfunddreißig oder zweiundsiebzig Kilometer westlich der iranischen Provinzhauptstadt Isfahan zwischen dem neunzehnten und der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, die ich nun endlich entwirrt zu haben glaube, einer wie immer definierten allgemeinen Leserschaft 2009 in

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