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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Wort mit. Im Abstand von einigen Minuten verließ einer von ihnen die Moschee, um General Mobasser die Mitschrift zu reichen, dem der Blutdruck wieder derart in die Höhe schoß, daß er einen Soldaten zur Apotheke schickte, um weitere Beruhigungstabletten zu besorgen: Es war die beleidigendste Rede, die je ein Iraner über einen Schah gehalten hatte. Dennoch weigerte sich General Mobasser, die Erstürmung der Feiziye zu befehlen, obwohl ihn seine Offiziere bedrängten. Überzeugt davon, daß Chomeini schließlich einlenken oder wenigstens die offene Provokation unterlassen würde, hatte er keine explizite Anweisung des Schahs eingeholt, was andernfalls zu tun sei. Jetzt rief der General lieber nicht im Palast an. Es war Aschura, der Höhepunkt der Trauerzeit um Imam Hossein. Hätte die Armee ausgerechnet an diesem Tag den Schrein der Fatima gestürmt, wäre der Schah endgültig zum Kalifen Yazid geworden, zum Mörder Imam Hosseins.
    Ajatollah Chomeini triumphierte. Seine Ansprache verbreitete sich wie ein Lauffeuer im ganzen Land, und jeder, der sie weitererzählte, fügte einen Satz hinzu, der noch unglaublicher schien. Am nächsten Morgen, dem 4. Juni 1963, die Großeltern hörten davon anderntags in Siegen, marschierten in Teheran hunderttausend Menschen in Richtung des Ferdousi-Platzes, um gegen den Schah zu demonstrieren. »Tod dem Diktator!« riefen sie, und: »Gott schütze dich, Chomeini!« Gegen Abend rang sich der Schah zu dem Befehl durch, die Demonstration gewaltsam aufzulösen. Hunderte wurden festgenommen. In der Nacht zum 5. Juni fuhr der Leiter des Teheraner Geheimdienstes, Oberst Moulawi, nach Ghom, um Ajatollah Chomeini zu verhaften. »Dieses widerwärtige Individuum, dessen Name ich erst erwähne, wenn ich den Befehl gebe, seine Ohren abzuschneiden«, hatte der Ajatollah zuvor über Moulawi gesagt. Jetzt war er wieder die Ruhe in Person. »Steh auf, Mostafa«, weckte er seinen Sohn mit sanfter Stimme, als die Soldaten sich vor der Tür versammelten: »Es sieht aus, als seien sie gekommen.« Die Soldaten stürmten ins Haus und schlugen mit Knüppeln auf die Bediensteten ein. Halbbekleidet, das Obergewand unterm Arm, trat der Ajatollah aus seinem Zimmer und rief mit lauter Stimme: »Ich bin Ruhollah Chomeini! Warum mißhandelt ihr diese armen Menschen? Was ist das für ein barbarisches Benehmen? Ich bin Ruhollah Chomeini! Schämt ihr euch nicht? Ihr hättet wie anständige Menschen einfach sagen können, ›Chomeini, komm!‹, und ich wäre gekommen.« Die Soldaten in ihren Schutzwesten und unter ihren Helmen waren von der Erscheinung Chomeinis im Nachthemd und seiner herrischen Stimme so überrascht und eingeschüchtert, daß sie von den Bediensteten abließen und einer nach dem anderen anfingen, sich bei ihm zu entschuldigen. Höflich geleiteten sie ihn dann zu einem schwarzen VW- Käfer, wie ihn der Geheimdienst oft für Verhaftungen nutzte, um kein Aufsehen zu erregen. »Ich sah, daß meine Mitfahrer sehr verängstigt waren«, erzählte Chomeini später über die Fahrt nach Teheran: »Deshalb erinnerte ich sie daran, daß ich es bin, der verhaftet wird, nicht sie, und fragte, vor wem sie soviel Angst hätten.« Etwa zur gleichen Zeit rief der Chef des Geheimdienstes, General Nassiri, bei General Mobasser an, der sich immer noch nicht beruhigt hatte. »Wo stecken Sie?« fragte Nassiri ihn. »Ich bin krank«, antwortete Mobasser. »Das ist ja ein hübscher Zeitpunkt, krankzufeiern«, wunderte sich Nassiri, worauf Mobasser wieder in Panik geriet: »Was ist passiert?« fragte er. Eine wütende Menge hatte bereits die Polizeistation von Ghom gestürmt. Auch in Teheran war für den Morgen mit schweren Krawallen zu rechnen. Die Regierung verhängte das Kriegsrecht.
    Wie ich den Block zwischen Wohnung und Büro wieder in entgegengesetzter Richtung entlanglief, sah ich im Schaukasten des Filmkunsttheaters, daß in zwanzig Minuten eine Filmreihe eröffnet würde, in der bis Juni erstmals das gesamte dokumentarische Spätwerk von Werner Herzog zu sehen ist. Ich kann nicht fortfahren, als ob nichts wäre, wenn in zwanzig Minuten ein Film von Werner Herzog beginnt, den ich noch nicht kenne. Andererseits hatte ich so viele Tage darüber geklagt, keinen Abend mehr im Büro zu verbringen, daß es eine Farce gewesen wäre, die

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