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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Stadium, das Herzog erreicht hat, nichts als Geplänkel . Es ist das Leben selbst, auf das er so genau zu schauen gelernt hat, daß es zum Zeichen wird. Er hat keine Zeit zu verlieren mit großen Sets, Finanzierungsakrobatik, Handlungskonstruktionen, Überlegungen, was gehen könnte und was nicht, überhaupt damit, Leute zu überzeugen, Produzenten, Kritiker oder die Kölner, die zur Eröffnung seiner Werkschau nur zu siebt erschienen sind. Nicht daß er nichts mehr zu erzählen hätte – nur hat seine Welt gerade zu viele Geschichten, um sich welche ausdenken zu können. Grizzly Man ist die Geschichte eines Bärenforschers in Alaska, der mitsamt der Freundin vom Objekt seiner Forschung getötet wird, im Wortsinn verschlungen. Der Film besteht größtenteils aus den Videos, die der Bärenforscher aufgenommen hat, oft mit dem Stativ oder mit ausgestreckter Hand, so daß der Bärenforscher in die eigene Kamera spricht. Dazwischen liegen Aufnahmen Herzogs von früheren oder anderen Geliebten des Bärenforschers, dessen Eltern in Florida, dem Piloten, der den Kadaver entdeckte, oder dem Arzt, der die Autopsie vornahm, jeder einzelne Gesprächspartner ein Gletscher von einem Charakter, weil Herzog sich auf den Boden zu legen vermag, jedes einzelne Gespräch so notwendig wie die Glieder der Indizienkette in einem Kriminalfilm. Allein schon dieses tiefe Amerikanisch, das so knarrt wie die Tür zu einem Saloon, klingt im Wechsel mit dem englischsprachigen Bayrisch Herzogs wie Urgesang. Dessen Erklärungen zur Biographie des Bärenforschers oder den Umständen der Videoaufnahmen sind ebenso wie die Fragen in den Interviews so betont sachlich, als konzentriere er sich wie in einer Englischprüfung nur darauf, die Sätze richtig zu bilden – um so gewaltiger die Wirkung, wenn Herzog sich plötzlich in den Kommentar hineinnimmt oder von vorne zu sehen ist. Einmal zum Beispiel, als der Bärenforscher vor dem Stativ ausflippt, im Selbstmonolog auf dreckigste Weise die Ranger beschimpft, bis er nur noch fuck fuck fuck schreit, übertönt Herzog die noch schlimmeren Schimpfwörter, indem er die Arbeit der staatlichen Naturschützer verteidigt und in einem Nebensatz daran erinnert, solche Ausraster eines Hauptdarstellers aus seiner früheren Filmarbeit zu kennen. Ein andermal, als der Bärenforscher enthusiastisch verkündet, daß die Natur in sich harmonisch sei, hört man Herzog mit dem bayrischen Akzent: »I see things differently«, und dann spricht Herzog von dem Chaos und der Brutalität, die er in der Natur am Werk sieht. Oder die letzten Aufnahmen: Als der Bär ins Zelt dringt, gelingt es dem Forscher noch, die Kamera einzuschalten, jedoch nicht mehr, die Sichtblende vom Objektiv zu nehmen, so daß von seinem und dem Tod der Freundin nur ein Tondokument existiert. Herzog spielt das Band nicht ab, weil er mit allen Mystikern weiß, daß nur die Reise zu Gott geschildert werden kann. Von der Reise in Gott und damit von der Vernichtung selbst zu sprechen, ist möglich allein im Gleichnis beziehungsweise in der Überlieferung: Es wird gesagt, daß gesagt wird, daß gesagt wird, daß. Die letzten Rufe, Schreie und Geräusche im Leben des Bärenforschers werden vom Gerichtsmediziner nacherzählt und damit in einen weiteren Konjunktiv gesetzt. Herzog sieht man später, wie er über Kopfhörer das Band abhört, plötzlich abbricht, den Kopfhörer herunterreißt, »stop it!« schreit, »please stop it!«, und der Angehörigen, die es ihm vorgespielt hat, in dem bayrischen Akzent befiehlt: »Never never listen to this! You should destroy it. Please destroy it!« Wenn ich mich richtig an die Szene erinnere, sieht man nur den Rücken von Herzog, sonst nur die Angehörige, es ist ein Dialog, der nicht ausgedacht sein kann, Sekunden der größtmöglichen Nähe und Mitmenschlichkeit, die nicht möglich wären ohne ehrliches Erbarmen, und zugleich mitgefilmt werden, mitgefilmt werden sollten, verwendet ohne Skrupel. Niemals wird Herzogs Kommentar sentimental oder esoterisch, und doch manifestiert sich in jeder Sekunde sein Gespür für die Realität jenseits der Realität, ist die Hingabe des Forschers an und schließlich sein Einswerden mit den Bären ein Gleichnis der mystischen Erfahrung. »Ich könnte für diese Tiere sterben«, wiederholt der

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