Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
Vom Netzwerk:
Todkranken. Er hätte das Photo erwähnt, das er mit der winzigen Digitalkamera vom Journalisten gemacht hat, der bald achtzig werden müßte, beziehungsweise die Frage der Frau: Seit wann hast du eine Kamera bei dir? Den nächsten Punkt, den er in Kafkas Tagebücher notiert hat, kann er nicht entziffern, nur das Wort Internet. Aufgehört hätte er mit den Briefen an Milena, genau gesagt, was die Anmerkung 59 bewirkte. Zwar wußte er, was mit Milena war und wurde, doch jetzt war es anders, jetzt war es nicht mehr eine Information, jetzt hatten die beiden mich teilhaben lassen an ihrem Verhältnis, jetzt glühte ich von ihrer Herzenswärme, jetzt hatte ich von ihr etwas gelesen, ihre eigene Stimme. »Zwei Menschen heiraten einander, um zusammenzuleben«, schrieb sie etwa in einem Feuilleton: »Warum ist denn zu dem überwältigenden, außerordentlichen Geschenk dieser Möglichkeit noch Glück nötig? Warum können die Menschen sich nie und nimmer mit wahrhaftiger, unbeschönigter Größe zufriedengeben und wählen lieber die herausgeputzte Lüge? Warum versprechen sie einander etwas, dem sie selbst nicht, dem aber auch Welt, Natur, Himmel, Schicksal, Leben nicht genügen können, und das niemals und nirgends jemand zu erfüllen vermag? Warum stellen sie einem reellen, wirklichen, heiligen, irdischen Vertrag Anforderungen von so literarischer Phantastik wie Glück? Warum verlangen sie vom anderen mehr als sie selbst zu geben imstande sind, warum verlangen sie überhaupt etwas, angesichts eines so großen, so ernsten, so tiefen Geschehens, wie es ein gemeinsames Leben darstellt?« Es war, als ob ich nicht gewußt hatte, was in der Anmerkung 52 stand: »Milena= Milena Jesenká-Polak, Prager Schriftstellerin. Ihre Übersetzung von ›Der Heizer‹ ins Tschechische erschien im ›Kmen‹ (›Der Stamm‹). Sie starb 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück.« Jetzt erst hatte Milena ihren vollständigen Namen. Auf die Tagebücher selbst einzugehen, vertagt der Sohn iranischer Einwanderer, weil es 5:03 Uhr geworden ist, er in ein paar Stunden nach Holland fährt und vom heutigen beziehungsweise gestrigen Tag eines noch festhalten muß: Die Frau ist schwanger. Das letzte Photo, das noch fehlte, hat er In Frieden eingefügt.
    Großonkel Mohammad Ali hat sich in Teheran in einem Hotelzimmer aufgehängt, sagt die Mutter beim Kuchen in Siegen. Sie war sieben oder acht, schätzt sie. Es wird also etwa 1940 gewesen sein, knapp zehn Jahre nach Urgroßvaters Tod. Er galt als außergewöhnlich sensibel, liebte Poesie, schrieb selbst Erzählungen, war in Isfahan Leiter der Kulturbehörde – daher also der Kontakt zum Chef der Gesundheitsbehörde. Es hieß, die Ehe sei nicht glücklich, er liebe seine Frau nicht. Es war eine arrangierte Ehe, sagt die Mutter, der Sohn wisse schon. Genaues weiß sie nicht zu berichten, schließlich war sie noch ein Kind. Von Großonkel Mohammad Ali kommen die Eltern auf die legendäre Reise mit den Großeltern nach Frankreich zu sprechen. Neu ist für den Sohn, daß Großvater nichts sehen konnte, als die Familie in Paris einfuhr, zu siebt im Auto, wenn es Anfang oder Mitte der sechziger Jahre war; die Eltern, die Großeltern und die drei Brüder, im Kofferraum das Zelt, in dem auch der Jüngste noch geschlafen hat. Großvater schien erblindet zu sein. Der Vater brachte ihn in die Universitätsklinik, wo die Ärzte feststellten, daß er zuviel geguckt hatte. Zuviel geguckt! Gut, er hatte auch irgendeinen Star, grauen, grünen, der Jüngste müßte den dritten Bruder fragen, dessen Fachgebiet die Ophthalmologie ist, jedenfalls diagnostizierten die Ärzte tatsächlich, bestätigt der Vater, eine Übermüdung des Sehnervs, die durch angestrengtes Sehen ausgelöst worden sei. Anders als die des Behördenchefs in Isfahan erscheint dem Jüngsten diese Diagnose nicht absurd. Könnte nicht das Stendhal-Syndrom vorgelegen haben, das schulmedizinisch belegt ist, wie beim Kuchen der Internist bestätigt, körperlicher Funktionsausfall infolge kultureller Reizüberflutung? Großvater war fanatisch in seiner Neugier, stimmen die Eltern überein. Nur fürs Gebet, das er verrichtete, wann immer es Zeit war, unterbrach er sein Studium der französischen Verhältnisse, Menschen und Monumente. Mit Vorliebe betete er in

Weitere Kostenlose Bücher