Dein Name
Todkranken. Er hätte das Photo erwähnt, das er mit der winzigen Digitalkamera vom Journalisten gemacht hat, der bald achtzig werden müÃte, beziehungsweise die Frage der Frau: Seit wann hast du eine Kamera bei dir? Den nächsten Punkt, den er in Kafkas Tagebücher notiert hat, kann er nicht entziffern, nur das Wort Internet. Aufgehört hätte er mit den Briefen an Milena, genau gesagt, was die Anmerkung 59 bewirkte. Zwar wuÃte er, was mit Milena war und wurde, doch jetzt war es anders, jetzt war es nicht mehr eine Information, jetzt hatten die beiden mich teilhaben lassen an ihrem Verhältnis, jetzt glühte ich von ihrer Herzenswärme, jetzt hatte ich von ihr etwas gelesen, ihre eigene Stimme. »Zwei Menschen heiraten einander, um zusammenzuleben«, schrieb sie etwa in einem Feuilleton: »Warum ist denn zu dem überwältigenden, auÃerordentlichen Geschenk dieser Möglichkeit noch Glück nötig? Warum können die Menschen sich nie und nimmer mit wahrhaftiger, unbeschönigter GröÃe zufriedengeben und wählen lieber die herausgeputzte Lüge? Warum versprechen sie einander etwas, dem sie selbst nicht, dem aber auch Welt, Natur, Himmel, Schicksal, Leben nicht genügen können, und das niemals und nirgends jemand zu erfüllen vermag? Warum stellen sie einem reellen, wirklichen, heiligen, irdischen Vertrag Anforderungen von so literarischer Phantastik wie Glück? Warum verlangen sie vom anderen mehr als sie selbst zu geben imstande sind, warum verlangen sie überhaupt etwas, angesichts eines so groÃen, so ernsten, so tiefen Geschehens, wie es ein gemeinsames Leben darstellt?« Es war, als ob ich nicht gewuÃt hatte, was in der Anmerkung 52 stand: »Milena= Milena Jesenká-Polak, Prager Schriftstellerin. Ihre Ãbersetzung von âºDer Heizerâ¹ ins Tschechische erschien im âºKmenâ¹ (âºDer Stammâ¹). Sie starb 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück.« Jetzt erst hatte Milena ihren vollständigen Namen. Auf die Tagebücher selbst einzugehen, vertagt der Sohn iranischer Einwanderer, weil es 5:03 Uhr geworden ist, er in ein paar Stunden nach Holland fährt und vom heutigen beziehungsweise gestrigen Tag eines noch festhalten muÃ: Die Frau ist schwanger. Das letzte Photo, das noch fehlte, hat er In Frieden eingefügt.
GroÃonkel Mohammad Ali hat sich in Teheran in einem Hotelzimmer aufgehängt, sagt die Mutter beim Kuchen in Siegen. Sie war sieben oder acht, schätzt sie. Es wird also etwa 1940 gewesen sein, knapp zehn Jahre nach UrgroÃvaters Tod. Er galt als auÃergewöhnlich sensibel, liebte Poesie, schrieb selbst Erzählungen, war in Isfahan Leiter der Kulturbehörde â daher also der Kontakt zum Chef der Gesundheitsbehörde. Es hieÃ, die Ehe sei nicht glücklich, er liebe seine Frau nicht. Es war eine arrangierte Ehe, sagt die Mutter, der Sohn wisse schon. Genaues weià sie nicht zu berichten, schlieÃlich war sie noch ein Kind. Von GroÃonkel Mohammad Ali kommen die Eltern auf die legendäre Reise mit den GroÃeltern nach Frankreich zu sprechen. Neu ist für den Sohn, daà GroÃvater nichts sehen konnte, als die Familie in Paris einfuhr, zu siebt im Auto, wenn es Anfang oder Mitte der sechziger Jahre war; die Eltern, die GroÃeltern und die drei Brüder, im Kofferraum das Zelt, in dem auch der Jüngste noch geschlafen hat. GroÃvater schien erblindet zu sein. Der Vater brachte ihn in die Universitätsklinik, wo die Ãrzte feststellten, daà er zuviel geguckt hatte. Zuviel geguckt! Gut, er hatte auch irgendeinen Star, grauen, grünen, der Jüngste müÃte den dritten Bruder fragen, dessen Fachgebiet die Ophthalmologie ist, jedenfalls diagnostizierten die Ãrzte tatsächlich, bestätigt der Vater, eine Ãbermüdung des Sehnervs, die durch angestrengtes Sehen ausgelöst worden sei. Anders als die des Behördenchefs in Isfahan erscheint dem Jüngsten diese Diagnose nicht absurd. Könnte nicht das Stendhal-Syndrom vorgelegen haben, das schulmedizinisch belegt ist, wie beim Kuchen der Internist bestätigt, körperlicher Funktionsausfall infolge kultureller Reizüberflutung? GroÃvater war fanatisch in seiner Neugier, stimmen die Eltern überein. Nur fürs Gebet, das er verrichtete, wann immer es Zeit war, unterbrach er sein Studium der französischen Verhältnisse, Menschen und Monumente. Mit Vorliebe betete er in
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