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mustergültig beherrsche, ihren Streit schlichte. Das klingt wahrscheinlich übertrieben, aber wer GroÃmutter erlebt hat wie alle am Tisch auÃer den Urenkeln, kann sich die Situation genau vorstellen. Sie war eben sehr resolut, die Dame, die ihren Mann auf dem Photo umarmt, mit oder ohne Französisch. Das französische Pärchen war so verdutzt, erinnert sich die Mutter, daà es sich für den Moment tatsächlich nicht mehr stritt, allein, das genügte GroÃmutter nicht. â Sagen Sie ihnen, verlangte sie von GroÃvater, sie müssen sich auf der Stelle küssen. Und was taten die beiden Franzosen? Sie küÃten sich!
Am Samstag, dem 14. Oktober 2006, ist es zu spät, den Koranlehrer in Leiden anzurufen. Gestern bereits hätte der Schüler ihn anrufen müssen, doch gestern trat er in einer Sendung über Totenköpfe auf, mit denen deutsche Soldaten in Afghanistan FuÃball gespielt hatten, und raste aus dem Studio, um rechtzeitig den Zug nach München zu erreichen. Daà der Schüler unterwegs war, geht nicht einmal als Ausrede durch, wozu hat er ein Handy? Auf der Fahrt nach Holland hatte ihn die Nachricht erreicht, daà der Koranlehrer im Krankenhaus liegt. Als sie wegen eines Staus mit zwei Stunden Verspätung eintrafen, zermürbte die Einsicht, daà alles seine Richtigkeit hatte: Fortan wird irgendwer immer in einem Krankenhaus zu besuchen sein. Der Koranlehrer selbst bewahrte die Fassung wie der Verurteilte in der Strafkolonie. Er empfinde immer stärker, daà er aus dem Dorf stamme und dorthin gehöre, seinem oberägyptischen Dorf, das längst eine Kleinstadt geworden sei, so gesichtslos, lärmend und staubig wie alle Kleinstädte Ãgyptens wahrscheinlich. Er begann, von den traumatischen Wochen zu erzählen, die er Anfang des Jahres in Quhafa verbrachte hatte. Es war das erste Mal seit der Flucht, daà er nach Ãgypten zurückgekehrt war, und das erste Mal seit Jahrzehnten, daà er mehrere Wochen in seinem Dorf lebte. Eigentlich hatte er die Verwandten und Nachbarn nur kurz besuchen wollen, einen Tag nur, immerhin lief das Semester in Leiden, aber sein Bruder wurde krank. Als Ãltester unter den Söhnen muÃte er die Dinge in die Hand nehmen, muÃte seinen Bruder nach Kairo verlegen lassen, wo der Lehrer Ãrzte in besseren Kliniken kannte, muÃte sich um die Verwandten kümmern, die Neffen und Nichten vor allem, die Besucher, muÃte sich mit dem ägyptischen Gesundheitssystem herumschlagen, das ein Desaster ist, ein wirkliches Desaster, genau wie in Iran. Nach zwei, drei Wochen auf der Intensivstation â der Intensivstation einer ägyptischen Klinik, und schon die spanische ist für deutsche Versicherte ein Alptraum â wurde die Familie des Koranlehrers vor die Alternative gestellt, daà der Bruder entweder bald stirbt oder sich einer teuren Operation am offenen Herzen unterzieht, die ihn vermutlich auch nicht rettet. Die Familie entschied sich für den Ruin, der seinem Bruder das Leben nicht rettete. Nur Tage nach dem Begräbnis brach der jüngste Bruder zusammen und kam auf dieselbe Intensivstation, so daà der Koranlehrer dem Unterricht in Holland weitere Wochen fernblieb. Dieser Bruder, immerhin, überlebte. Der Schüler stellte sich vor, wie sich der Koranlehrer, der ihm viel kleiner als sonst, abgemagert und dennoch viel zu dick im Pyjama gegenübersaÃ, in einem Wohnzimmer auf dem ägyptischen Dorf mit den Geschwistern beriet, wie er mit den Neffen und Nichten sprach, hochstehende Ãrzte in der Hauptstadt anrief, sich mit seinem Namen vorstellte in der Hoffnung, daà sie seine Bücher gelesen hatten, wie er in Ãmtern und Krankenhausverwaltungen anstand, vor den Schreibtischen der hochstehenden Ãrzte Platz nahm, am Bett seiner Brüder wachte, das Gewimmer und die Schreie der anderen Patienten, die Hektik des Personals bei Krisen, die stundenweise Ruhe bei Nacht, wenn einmal nichts zu hören ist als das Piepsen der Apparate. Der Schüler stellte sich den Koranlehrer vor, den er von einem ganz anderen Kampf kannte, einem öffentlichen, einem politisch-theologischen Kampf, der Lehrer, der weltberühmt wurde mit seinen kritischen Schriften und aus seinem Land vertrieben, der Schüler stellte sich ihn vor in einem jener Kämpfe, die Gott nicht nur für die Helden und Imame, sondern prinzipiell für alle Menschen vorgesehen hat, das
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