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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Kabuls, erinnert bestimmt nicht mehr »mit großzügigen Villen, Palästen und Gartenanlagen an einen europäischen Kurort«. Auch die Rettungsstation am nahe gelegenen Kharga-See, die zum Schutz der Schwimmer im Sommer 1974 ständig besetzt war, dürfte verlassen sein.
    Dem Präsidenten, der ihm die Aufgabe gestellt hat zu erklären, was ihn mit Deutschland verbindet, antwortete der Sohn iranischer Einwanderer spontan, die Sprache natürlich, allein, welcher Dichter würde der Behauptung widersprechen, daß die Literatur seine Heimat sei. Aber was macht diese Literatur aus? Anders gefragt: Was ist deutsch an der deutschen Literatur? Der Sohn wird über den exemplarischen deutschen Schriftsteller sprechen, der für ihn nicht Goethe ist, nicht Schiller, nicht Thomas Mann oder Bertolt Brecht, sondern der Prager Jude Franz Kafka. Kafka? Der Sohn iranischer Einwanderer kann sich erinnern, was er dachte, als er das berühmte Verlobungsphoto mit Felice Bauer zum ersten Mal sah – seitlich neben der Sitzenden stehend, den Kopf leicht nach vorn gedreht, schaut Kafka mit einem vielleicht unsicheren, vielleicht spöttischen Lächeln auf einen Punkt etwas oberhalb der Linse des Photographen: Der sieht gar nicht deutsch aus, dachte der Sohn. Die dunkle Hautfarbe, die starken Augenbrauen über den schwarzen Augen, die kurzen schwarzen Haare, die so tief in die Stirn reichen, daß Schläfen nicht einmal in Ansätzen zu erkennen sind, die orientalischen Gesichtszüge – in Deutschland wäre es heute ungehörig zu sagen, aber als Jugendlicher war es sein unmittelbarer Eindruck: Der sieht nicht deutsch aus, nicht wie die Deutschen, die er aus der Schule, dem Fernsehen oder von der Nationalmannschaft kannte. Das Konto weist ein strukturelles Defizit auf, teilt der Bankberater soeben mit. Das heißt, selbst in den einkommensstärksten Monaten kommt es kaum über Null. Das Depot ist schon aufgebraucht, so daß der Bankberater einen weiteren Aktienfonds auflösen mußte. Je mehr der Sohn verdient, desto mehr gibt er aus, um noch zum Arbeiten zu kommen, der Student, die Kinderfrau, die Miete für ein Büro, damit es eine Wohnung sein könnte, und die Scheune im Bergischen Land. Wenn er das ganze Jahr zu Hause bliebe, das Telefon abschaltete, die Website löschte, die Mail-Adresse änderte, dem Studenten kündigte, der ihm gelegentlich aushilft, das Büro und das Bergische Land aufgäbe, würde er kaum weniger Geld verdienen und ein reicheres Leben haben als jetzt. Daß er weiter wie eine Maus im Rad rennt, könnte ein Lehrbeispiel sein, wie ökonomisch der Kapitalismus und psychologisch der Selbstbetrug funktionieren. Er führt sich die eigenen Werke vor Augen, die Bücher und die anderen bis hin zu den Reportagen, die Anerkennung bis hin zum Präsidenten, nichts ist ihm zu gering, um es in die Bilanz aufzunehmen, so daß mit Tricks und Schiebereien am Ende ein noch so geringes Plus bleibt, mit dem er das Defizit ausgleicht, das ihm der Bankberater vor Augen geführt hat. Eitelkeit ist nicht nur eine Schwäche. Sie macht auch stark. Wer den ganzen Tag mit Menschen zu tun hat, wird das vielleicht nicht verstehen. Der Sohn hingegen starrt, wenn er Glück hat, bis in die Nacht auf einen Bildschirm, der nichts gibt, nichts erwidert, nichts sagt als gelegentlich »Sie haben Post« und »Auf Wiedersehen«, und selbst dafür muß er auf dem Boden kriechen, um das Kabel einzustöpseln. Vor sich selbst zu prahlen, ist das Pfeifen im Wald. Jetzt ist es 16:25 Uhr am 10. Oktober 2006. Er kriecht ein letztes Mal auf dem Boden, »Sie haben Post« und »Auf Wiedersehen«, bevor er bei dem iranischen Händler gegenüber der Kneipe, der vor der Revolution Regisseur beim iranischen Staatsfernsehen war, Reis und Rosinen kauft, um rechtzeitig bei der Tochter zu sein, die bis fünf Klavier hat. Gewiß sei es peinlich, was er über sich preisgebe, schreibt Kafka, aber der Vorwurf möge nicht an ihn gerichtet werden, sondern an das Leben, das nun einmal peinlich sei. Aber das will der Präsident gar nicht wissen.
    Der Bildhauer in München fuhr die Gnädige Frau gestern in die Klinik zurück, wo sie sonst nur während der Chemotherapie liegt. Gewiß gefährde ihr Zustand den Zeitplan, antwortete er; gewiß sei es für deren Erfolg besser, wenn der vorgesehene Abstand zwischen den Behandlungen nicht

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