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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Kirchen, was den Eltern mitunter so peinlich war wie manche ihrer Eigenarten dem Jüngsten, wenn er mit ihnen unterwegs ist. Einmal kam der Pfarrer und wunderte sich. Nach dem Gebet unterhielt sich Großvater mit ihm so lange, daß die Eltern ungeduldig wurden. Großmutter hatte schon mehrfach hupen lassen, da traten Großvater und der Pfarrer vor die Kirche und umarmten sich. Französisch hatte Großvater in Teheran in der Schule gelernt. Deutschland hingegen blieb ihm fremd, was an seinem Vorurteil, an Siegen, aber auch an den Umständen lag. Erst wurde seinem Bruder Hassan, den er zur Behandlung begleitete, ein Bein amputiert, dann landete die Familie eines Neffen oder einer Nichte in Deutschland, Bahais, die die Anfeindungen in Isfahan nicht länger ertrugen; bei der Ankunft hatte ihr sieben- oder achtjähriges Mädchen plötzlich Lähmungen. Im St.-Marien-Krankenhaus, in dem der Vater als Radiologe arbeitete, stellte sich heraus, daß es unheilbar an Krebs erkrankt war. Bis das Kind starb, blieb die Familie in Siegen, wo der Vater eine Wohnung besorgte. Das fiel alles in die Zeit, in der die Großeltern zu Besuch und zum ersten Mal in Europa waren; hinzu kam, daß sich Großmutter vom ersten Tag an unwohl fühlte. Sie klagte über das Wetter, über die Deutschen, über die Wohnung, über die schlechte Luft. Außerdem sei das Fleisch nicht halâl , nicht rituell rein. Daß der Vater es von den Türken kaufte, die in der Nähe des Stahlwerks eine Metzgerei betrieben, wollte sie nicht gelten lassen. Endlich reiste die Familie nach Frankreich, wo für Großmutter wahrscheinlich selbst der Rotwein halâl gewesen wäre. Am anderen Ufer des Rheins angekommen, sagte der Vater: Liebe Mutter, wir sind jetzt in Frankreich. Liebe Mutter, so sprach er Großmutter an, die sofort tief durchatmete und ohne jede Ironie, keine zehn Meter jenseits der Grenze laut aufseufzte: Ach, ist die Luft hier gut! Diese Geschichte kennt der Sohn bereits. Bei der Fortsetzung streiten sich die Eltern jedesmal, wer erzählen darf. Großvater unkte, daß Großmutter die Reiseleitung übernehmen möge, wo sie Frankreich doch so gut kenne. Dort den Mann, den solle sie fragen, wo es nach Paris gehe. Kein Problem, sagte Großmutter und stieg aus. – Mossio, Mossio! redete sie auf den Monsieur ein, die Betonung von Móssio auf der ersten Silbe: Pâris kodjâst ? An dieser Stelle, da der Vater prustend das Französisch seiner Schwiegermutter nachahmt – Paris mit dem dunklen, in Isfahan noch dunklerem A, fast wie Poris, kodjâst bedeutet »wo ist« –, regt sich in der Mutter jedesmal der Instinkt, die Großmutter zu verteidigen: Immerhin habe der Mann den richtigen Weg gewiesen, sagt sie in das Gelächter am Tisch. Genau wie es bis heute die Mutter bei konsequent allen Ausflügen tut, zog Großmutter auf eigene Faust los, wenn die anderen nicht mithielten, also fast immer. Auf den Campingplätzen hatte sie die Angewohnheit, in ihrem bunten Tschador durch die Zeltreihen zu spazieren und auch gern einmal in die Zelte hineinzuschauen. – Wie bitte? fragt der Jüngste, Großmutter schaute in die Zelte hinein? – Ja, bestätigt die Mutter: Wenn Großmutter sich für etwas interessierte, schaute sie eben nach. Der Jüngste muß hinzufügen, daß die Frauen den Tschador früher nicht trugen wie heute. Es war ein buntes Tuch, das zwar vom Scheitel bis zu den Knöcheln reichte, aber Haare und Körper je nach Handgriff mal mehr, mal weniger symbolisch bedeckte. Kam ein attraktiver Mann des Weges, sank der Tschador der jungen wie junggebliebenen Frauen gern und betont absichtslos auf die Schultern. Großmutter sah also nicht wie eine Nonne aus, auch nicht wie ein Gespenst, wehend muß ihr Tschador eher wie eine Fahne gewirkt haben, ihr Leib ein schlanker Mast, so schnell wie sie zu marschieren pflegte. Eine Erscheinung wie ihre hatten die Camper bestimmt noch nicht gesehen. Einmal, als sie noch länger als üblich weggeblieben war, hatte sie bei der Rückkehr ein schweigendes Pärchen im Schlepptau, den Mann an der einen, die Frau an der anderen Hand. Sie hatte gehört, wie die beiden sich im Zelt anschrien, da war sie einfach hineingegangen, hatte den Mossio, Mossio ans Freie gezogen und ihn mitsamt Mâtmosell zum Zelt der Eltern geschleppt, damit Großvater mit seinem Französisch, das er doch so

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