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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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riefen an oder schauten vorbei, und sei es nur, um zu annoncieren, daß sie da sind, auch für Praktisches, nicht durchweg die Freunde, von denen man es erwartet. Der Freund in Köln suchte nach dem richtigen Wort dafür, was erwartet werden darf. Trost ist es nicht, denn es gibt keinen Trost. Mitgefühl? Es ist Beistand, sagte der Musiker, ja, Beistand. Der Freund stimmte zu, daß Beistand das Erwartbare gut trifft. Man steht jemandem bei, das ist alles und nicht wenig. Ansonsten hat der Musiker von nervösem Lächeln bis zu widerwärtiger Schnoddrigkeit (»hoffentlich geht’s schnell vorüber«) das Spektrum der Reaktionen erlebt, die normal zu sein scheinen. Er kann nicht ständig lügen, wenn er nach seinem Befinden gefragt wird und was er gerade treibe, nahm den Freund, um nicht an seinem üblichen Tresen zu stehen, mit zur Vernissage einer Ausstellung von Allan Kaprow in München. Sie gingen hinein und wieder hinaus, das war alles und war alles zuviel. Wenn Eitelkeit sich wie bei der Vernissage einer Ausstellung von Allan Kaprow in München ballt, ist die Aussicht auf Vergänglichkeit doch ein Trost. Als der Museumsdirektor Kaprows Tod im Frühjahr erwähnte, hörte der Freund hinter sich einen jungen Mann im Vorübergehen sagen: Ach, der ist schon tot. In dem enttäuschten, beinah vorwurfsvollen Schulterzucken, das der Freund in seinem Rücken spürte, war zusammengefaßt, was es zu sagen geben wird über uns, mag unser Museumsdirektor noch so schwülstige Worte verlieren. Selbst Allan Kaprow, den mit dieser Ausstellung Zehntausende Besucher und viele Zeitungen würdigen, war den kältesten, plattesten Tod gestorben. Der junge Mann hinter ihm sah das ganz richtig. Sein »Ach, der ist schon tot« hatte die gleiche Gefühlslage, in der die Besucher der Vernissage »Guck mal, was die anhat« oder »Das Bild hängt ja schief« sagten, und darin seine Wahrheit, eine fürchterliche Wahrheit, wenn man es bedenkt, wenn der Freund die Gnädige Frau bedenkt, an deren Bett er den Rest des Abends verbrachte. Der Moderator, nach dessen Befinden er sich bei der Sekretärin erkundigt, während er in Mannheim auf den Anschlußzug wartet, möchte nicht angerufen oder besucht werden. Nicht einmal die Kollegen sollen ihn anrufen, er selbst würde sich melden. Die Sekretärin diktierte die Adresse. Der Studiogast entwirft ein paar Zeilen, die auf der Kommode im Flur oder dem Küchentisch liegen werden, wenn der Moderator aus dem Krankenhaus zurückkehrt, das Geständnis der Hilflosigkeit (if there is anything I can do, write or organize, please please don’t hesitate to …) und doch das mindeste, ein Ritual so notwendig wie das Gebet, das der Studiogast ebenfalls sprechen wird. Wahrscheinlich hatte er den Moderator deshalb nicht aufgelistet, weil Prostatakrebs ihm nicht existentiell schien. Selbst der eigene Vater konnte erfolgreich behandelt werden. Das war es, genau, jetzt fällt es ihm ein, was er im Aufzug dachte, wie über einen Politiker in einer Affäre oder ein Trainer nach einer Niederlage: Prostata kriegt er in den Griff. Wie schade nur, daß der Moderator in Rente geht, wie der Freund im Aufzug außerdem erfuhr. Freilich hatte er überhaupt keine Ahnung, welche verschiedenen Formen, Stadien und Prognosen Prostatakrebs zukommt, ob von der Rente viel bleibt. Er dachte sich das nur wegen des Vaters, der seinen Prostatakrebs in den Griff gekriegt hatte. Die ersten Ergebnisse der Chemotherapie scheinen nicht schlecht zu sein, erfährt der Freund aus Köln, während er in Mannheim immer noch auf den Anschlußzug wartet. Ausgeschlossen ist damit in München die schlimmste der drei Möglichkeiten, die der Bildhauer ins Auge faßte wie den möglichen Ausgang einer Schlacht: Durchbruch, Stellungskrieg oder Kapitulation. Wie Menschen systematisch überfordert werden, meint der Freund aus Köln jetzt oft genug beobachtet zu haben, die Reaktion offenbar gesetzmäßig, auf Mechanik umzuschalten, reines Funktionieren. Sie reagieren nicht mehr immer richtig, halten gleichwohl durch und sind selbst erstaunt, daß die eigenen Kräfte nicht schwinden. Wärme zu produzieren, Gefühle, ist in die Mechanik eingebaut. Anders als der Bildhauer hatte der Freund in der Neurologie Nächte, in denen er sich ausruhen, wenn auch selten schlafen konnte, auch ging es nur eine Nacht um Leben und

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