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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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einen Brief schauen könne, mit dem er beim Ausländeramt eine Ermäßigungskarte für öffentliche Einrichtungen beantrage. – Moment, sagte der Nachbar, ich muß erst was abschicken. Der Nachbar mußte auch zum Zug, weil er um 18 Uhr ans Pult von Theodor W. Adorno treten sollte, aber eher vermasselte er seine Poetik, als gerade heute einem Fremden nicht zu helfen, dessen Geschichte nicht einer fernen Vergangenheit angehört. Wahrscheinlich stehen deshalb oft Leute vor dem Café, Schwarze oder Araber, Türken, Asiaten und immer Osteuropäer, die eine Zigarette rauchen, weil sie auf den Zeitpunkt warten, den sie mit den Verwandten für das Telefonat vereinbart haben, oder auf den Verwandten, der sagen wir in Sansibar ans Telefon gerufen wird wie Großvater um das Jahr 1917 in Saweh, worauf er den bemerkenswerten Agha Seyyed Abolhassan Tabnejad verließ: Mohammad, komm ins Postamt, schnell, du hast einen Anruf, beeil dich! Nicht einmal das Französisch klingt im Internetcafé wie eine europäische Sprache, westeuropäische, muß der Nachbar schreiben, denn Serbisch oder Albanisch oder was die Blonde in ihr Headset rief, ist natürlich auch europäisch. Der Hausmeister sagte, daß das ganze Viertel in der Hand von Bulgaren sei, einer richtigen Mafia. Das Teppich-Paradis auch? Das ist die Wirklichkeit, denkt der Nachbar jedesmal im Internetcafé, dieser Wirrwarr, diese Gerüche, was ist das? Schweiß, Wüste, die Karpaten?, die Schwarzen in ihren Trainingsklamotten, Albaner immer in Leder, dann die Blonde mit der rosa Bluse, eine Ukrainerin, nimmt er an, alles Zwangsprostituierte oder Putzfrauen, sagte der Hausmeister, der den Wirrwarr für die Wirklichkeit hielt und nicht, was die im Fernsehen verkünden. Die wollen uns nicht bekriegen, sagte der Hausmeister, die sind sich nicht mal untereinander einig und wir sind denen schon vollkommen egal, schien er den Nachbar nicht denen zuzuschlagen, die interessieren sich nicht für Talkshows, die interessieren sich nicht einmal fürs Wetter, die haben ihre eigenen Satelliten. Jeder interessiert sich fürs Wetter, wandte der Nachbar ein. Was wollen diese Chinesen denn schon mit dem Wetter? fragte der Hausmeister und dachte vielleicht, ohne es auszusprechen, daß von den Schwarzen, Arabern und Bulgaren auch keiner je in den Park geht oder wenn, dann zum Biertrinken auf die Bank mit dem Rücken zur Kreuzung, wo die Autos oft sechsspurig stehen, zum Scheißen ins Gebüsch oder für eine schnelle Nummer. Die werden uns einfach beiseite schieben, dachte der Hausmeister wieder laut, nicht durch Kriege, nein, die sind nicht aggressiv, die Türken recht betrachtet keine schlechteren Menschen, niemand habe ihn je im Viertel bedroht, nein, die werden uns mit ihrer Toleranz beiseite schieben, Toleranz?, ja, Toleranz, Sie haben richtig gehört, und unsere Trägheit, die sind mit allem einverstanden, nehmen alles, wie es ist, während wir noch meinen, die Wahl zu haben, oder nicht beiseite schieben, einfacher noch, die werden uns zusammenpressen, von unten, von oben, von links und von rechts, breitete der Hausmeister die Arme zwischen Fußmatten in Hammer Optik aus und führte sie wieder zusammen, durch ihre schiere bewegliche Masse, die jede Ritze ausfüllt, die Gasse, die Hauptstraße, die Parallelstraße, die sind nur der Anfang, bis nur noch ein Strich von uns übrigbleibt oder nur noch ein Name, da hilft keine Raketenabwehr, so schnell können wir gar nicht schauen, nur ist der Laden nicht mehr viel wert, wie sie bald merken werden, ist erst von den Türken, jetzt von den Bulgaren geplündert, und dann ziehen sie vielleicht weiter nach Norwegen oder in die Vereinigten Arabischen Emirate oder am wahrscheinlichsten nach China, worin unsere einzige Chance liegt, falls wir bis dahin noch kein Strich sind oder so arm, mit ihnen ziehen zu müssen, den Bulgaren hinterher. Köln 100 Yuan, 30 Dirham, 2 Kronen. Eigentlich, dachte der Nachbar, ist es ein gutes Gefühl, selbst zweihundert Meter von zu Hause so fremd zu sein, so irrelevant für den Albaner neben ihm in der Lederjacke, die Frau mit der rosa Bluse, daß er recht betrachtet am 11. Mai 2010 ganz entspannt um 17:14 Uhr aus dem Zug steigen kann, Flughafen Frankfurt schon passiert. Einen so exquisit formulierten Brief eines Flüchtlings hat die Kölner Stadtverwaltung noch nie erhalten. Vielleicht verdankt ihn der junge

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