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hätte, seinen Daumen durchschneidet. Literatur verwandelt sich der Welt an. »Und nimmer ist dir / Verborgen das Lächeln des Herrschers / Bei Tage, wenn / Es fieberhaft und angekettet das Lebendige scheinet oder auch / Bei Nacht, wenn alles gemischt / Ist ordnungslos und wiederkehrt / Uralte Verwirrung.« Unvollständigkeit, Unübersichtlichkeit, UnfaÃbarkeit ist Jean Pauls Romanen daher genauso inhärent wie Hölderlins Gedichten, und inhärent ist gerade den bedeutendsten Werken, daà der Autor selbst sie als unvollkommen, unzureichend, unabgeschlossen wahrnimmt. Insofern sie dem Unendlichen eine materielle Gestalt geben, müssen sie endlich sein: Noch so viel mehr, so viel besser wäre es zu sagen, wie Hölderlin es empfunden zu haben schien, wenn man in der Frankfurter Ausgabe verfolgt, wie sich die einzelnen Gedichte und Gedichtfetzen auf den Blättern, die er ohne Unterlaà beschrieb, geradezu bildlich miteinander verschlingen, so daà auch der Herausgeber oft nur vermuten kann, welche Zeile zu welchem Text gehört. Hölderlin selbst wird es manchmal nicht mehr gewuÃt und schon gar nicht damit gerechnet haben, daà zweihundert Jahre später Germanisten, als sei ihr eigentliches Fachgebiet die Archäologie, Buchstabe für Buchstabe sichern, um die Bedeutung, manchmal auch nur den Wortlaut zu begreifen. »Denn ich schrieb nur meinen Sinn, wie ichs in der Tieffe verstund«, hatte er bei Jakob Böhme wahrscheinlich ebenfalls gelesen: »und machte darüber keine Erklärung, denn ich vermeinte nicht, daà es solte gelesen werden, ich wolts für mich behalten: sonst so ich gewust hätte, daà es sollte gelesen werden, so wollte ich klarer geschrieben haben.« In diesem Sinne haben die Schriftarten, Siglen und kreuz und quer verlaufenden Buchstabenreihen der Frankfurter Ausgabe selbst ein Objektives, da sie an dem Moment des Ungenügens über die einzelnen Wörter hinaus teilhaben lassen, wie es keine Leseausgabe tut. Jedes Werk auf Erden ist eine »geborne Ruine«, als die Jean Paul Die unsichtbare Loge mir zum Trost bezeichnet, daà auch ich niemals zum Ende kommen werde mit dem Roman, den ich schreibe, aber bis Dienstag mit meiner Poetik. Jeder Traum ist ein Bruchstück und darin realistischer als die Ordnung unserer eigenen Kunstgärten: »Findet auf diesem (von uns Erdball genannten) organischen Kügelchen , das mehr begraset als beblümet ist, die wenigen Blumen im Nebel, der um sie hängt â seid mit euren elysischen Träumen zufrieden und begehret ihre Erfüllung (d.h. Verknöcherung) nicht; denn auf der Erde ist ein erfüllter Traum bloà ein wiederholter .« Es gehört zum Wesen der Romane, die Jean Paul schrieb, daà sie unabgeschlossen scheinen, ihre Handlung ins Offene und Unbestimmte ausklingt. Auch der Roman, den ich schreibe, wird, so oft sein Erscheinungstermin noch verschoben werden mag, endlich abbrechen müssen, damit der Vertrag sich erfüllt, weil sonst alles immer sich weiter fortentwickelt wie der Bürocontainer, der am 16. August 2008 um 10:35 Uhr wegen des neuen Regals von der Wand wegrücken muÃte und sich bis in die Poetikvorlesung verwickelt, die der Romanschreiber oder ich übermorgen um 18:15 Uhr an dem Pult, an dem Theodor W. Adorno stand oder nicht stand, über Jean Paul halten werde, der unter der Schreibtischplatte des toten Schreiners lag oder nicht lag. Mögen ihre Seelen froh sein.
Seit er im Büro alle Leitungen gekappt hat, sitzt der Nachbar regelmäÃig im Internetcafé, das wie alle Internetcafés des Viertels kein Café ist, sondern ein Ladenlokal mit weiÃen Bodenkacheln, Computern auf quadratischen Tischen aus furniertem Sperrholz, durch Sichtblenden voneinander getrennt, manchmal einem Kühlschrank mit Getränken und Kabinen für Ferngespräche, so daà ein Wirrwarr von Sprachen herrscht, Iran neunzehn Cent, Türkei neun, Bangladesch vierundzwanzig, und denkt sich die Dramen nicht mehr aus, sondern sieht auf dem Nachbarbildschirm vielleicht eine Mutter in Lateinamerika trotz Sichtblende weinen oder eine Hochzeit anbahnen, und irgendwo in Asien ruft jemand schweiÃgebadet insurance , insurance . Vorhin zum Beispiel, als er die Vorlesung an die Zeitung mailen wollte, beugte sich ein junger Schwarzer herüber, achtzehn, neunzehn Jahre alt höchstens, und fragte in gebrochenem Deutsch, ob der Nachbar einmal auf
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