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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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sei ich Experte auf dem Gebiet der Nationalitätenkonflikte in Zentralasien. Eine Deutsche wählt vergeblich eine Nummer in Hurghada – eine Urlaubsbekanntschaft, Verwandte oder Freunde, die in den Ferien sind, der Hotelmanager, der so nett war? Für Viertel vor sechs kündigt jemand einen Anruf nach Australien an. Um 16:20 Uhr auf meiner Allmacht schlafen die Australier noch. Der Wohnwagen füllt sich. Ein pensionierter Berufssoldat im roten Hemd mit weißen Punkten, 1937 geboren, der Krieg: Junge, Junge, wird von seiner polnischen Freundin begleitet, die er vor Jahren kennengelernt hat, als er mit seiner Frau den Hof seiner verstobenen Mutter in Ostschlesien besuchte. Sie luden die Polin nach Köln ein. Vor sechs Jahren starb seine Frau an Krebs. Jetzt ist auch Liebe dabei, und die Polin nickt, ja, sie strahlt geradezu. Seine Tochter ist in Amerika mit einem Iraner verheiratet, dessen Duldung in Deutschland auslief. Mit sieben Tage die Woche Bügeln fing er in Atlanta an, weil in Iran – die Hand fährt zum Hals: Kopf ab. Papa, ich liebe ihn, hat sie zum Abschied gerufen. Jetzt haben sie zwei wunderschöne Kinder, wie die Polin bestätigt, das Blut, wie der pensionierte Berufssoldat anmerkt, ein wahrer Fruchtcocktail, Junge, Junge. … 16:43 Uhr auf dem Handy, also tatsächlich. Jetzt war schon länger niemand mehr im Wohnwagen, außer der Galeristin, der Dokumentarfilmerin und den Helfern von der Städtepartnerschaft Köln–Barcelona, die sich alle sorgen, daß ich zu wenige und zu alltägliche Geschichten gehört habe – kein Bürgerkriegstrauma! Keine boat people ! Um Viertel vor sechs kommen die Anrufer für Australien, tröstet mich die Galeristin – können Sie so lange bleiben? Der Dokumentarfilmerin erläutere ich im Interview, das sie mit mir führt, meinen Unwillen, an Kunstprojekten teilzunehmen, für die man sich durch nichts als seinen ausländischen Namen qualifiziert. Aber wir hatten auch deutsche Schriftsteller, betont sie. Ich erwidere, daß sie einen solchen gerade interviewe. Die Telefonzellen sind so leer, daß ich beschließe, sie mit einem Anruf beim Korrespondenten in Amman zu trösten. Danach werde ich zu Kaffee und Kuchen aufs Bürgerfest gehen, wo die deutsche Christdemokratie viele Argumente gefunden haben sollte, gegen Ausländer zu sein. Ich jedenfalls kann überhaupt nicht begreifen, warum das türkisch-jugoslawisch-kurdische Gedudel so gräßlich laut gestellt werden muß. … Kaffee und Kuchen sind ausverkauft, weshalb ich die Christdemokratie mit exakt einem Euro subventionierte, die Betriebskosten des Eisstands nicht berücksichtigt. Ohne Kostüme werden griechische Volkstänze erst richtig unansehnlich. Dabei ist das Fest so gut gemeint und auch, auf seine gänzlich unspektakuläre Weise, gut gelungen – besser jedenfalls als heute die soziale Kunstinstallation, die in den Durchsagen des DJ und des Bezirksbürgermeisters schon gar nicht mehr erwähnt wird –, daß ich natürlich überhaupt nichts schrecklich finde, sondern mich über die Friedfertigkeit freue, die dem Nachmittag zwischen Rhein und Bezirksrathaus zugrunde liegt, noch dazu bei einem halben Monatslohn für einen Text, den ich hiermit schon veröffentlicht habe. Den Korrespondenten habe ich auf Recherchereise im Irak erwischt. Das wäre jetzt mal eine dramatische Geschichte: Hallo Bagdad, hier Köln. Statt dessen reden wir über die Familien. 17:57 Uhr auf dem Laptop. Die Dokumentarfilmerin hat eingepackt. Da niemand mehr kommt, wird niemand böse sein, wenn ich gehe. Gott schütze Sie, Sie auch.
    Am Mittwoch, dem 15. Dezember 2010, ist es zwei Minuten zu früh, als ein weißbärtiger, stämmiger Richter, der unter dem schwarzen Talar eine Jeans trägt, die Eheleute und die beiden Anwälte mit ins Verhandlungszimmer nimmt, das kleiner ist als das frühere Büro des Mannes, Linoleumboden, fünf Tische angeordnet zu einem offenen Rechteck, aus dem elften Stock die Aussicht auf den Kölner Dom, an der Querwand eine Stuhlreihe für Besucher, obschon die Sitzung nicht öffentlich ist, wie der Richter als erstes verkündet, nachdem er am Mitteltisch Platz genommen und den Stapel Unterlagen vor sich abgelegt hat. Dann öffnet er eine Kladde, murmelt eine Begrüßung und ruft nach der Nennung der Geschäftsnummer und der Familiensache, wie eine

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