Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)
betrogen gefühlt und hintergangen und …«, sie senkte den Blick, »… bin noch immer völlig entsetzt.«
Bislang hatte sie mit niemandem darüber sprechen können, nicht einmal mit Björn. Ulf war der Einzige, der dieses überwältigende Verlustgefühl mit ihr teilte, das sie empfunden hatte, als Caroline von einem Tag auf den anderen verschwunden war.
Er nickte langsam. »Wenn der alte Mann nicht schon tot wäre, würde ich ihn dafür umbringen«, sagte er jetzt ruhig, doch in dieser Ruhe schwang eine Kälte mit, die Maybrit einen Schauer über den Rücken jagte. Er hatte einen gefährlichen Punkt jenseits seiner Wut erreicht.
Sie räusperte sich. »Hast du eine Idee, warum er es getan hat?«
»Er mochte Lilli nicht.«
Sie zog eine Braue hoch. »Das hat er mir gegenüber nie geäußert.«
»Dafür mir gegenüber umso häufiger.«
»Aber warum?«
»Alte Ressentiments gegen die Deutschen. Er war während des Zweiten Weltkriegs lange Zeit in Norwegen.«
Maybrit schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Nicht deswegen. Das glaube ich nicht.«
»Vielleicht war es nicht der einzige Grund, aber es war mit Sicherheit einer«, beharrte Ulf. »Und es ging um Macht. Letztlich hat niemand in unseren beiden Familien etwas Entscheidendes ohne die Zustimmung von Olof Svensson getan.«
»Außer dir«, bemerkte sie.
Sie sahen sich lange an und erinnerten sich an Szenen, die sie mühsam aus ihrem Gedächtnis verdrängt hatten, wie jene im Garten ihrer Großeltern während eines Mittsommerfestes, wo Ulf im Alter von zehn Jahren nach einem Streit mit seinem Großvater trotzig die Feier verlassen wollte und von dem alten Mann mit Schlägen an den gemeinsamen Tisch zurückgetrieben worden war. Daraufhin hatte Ulf aus Zorn den gesamten Nachtisch den Schweinen des Nachbarn vorgeworfen. Es war damals nur dem Einfluss der Großmutter zu verdanken gewesen, dass das Fest nicht noch schlimmer endete. Maybrit seufzte bei dem Gedanken an dieses Erlebnis, das nur eins von vielen war. Ulf hatte den Jähzorn seines Großvaters öfter herausgefordert als alle anderen in der Familie, und er war meist bitter dafür bestraft worden. Er war aber auch der Einzige gewesen, der sich gegen die Allmacht des alten Mannes aufgelehnt hatte, obwohl er ihn nicht weniger gefürchtet hatte.
Maybrit sagte: »Wenn Caroline wenigstens mit dir geredet hätte …«
»Sie konnte nicht«, entgegnete Ulf. »Der Tod ihrer Eltern hat sie völlig überwältigt. Außerdem hatte sie Angst vor dem alten Mann. Und das wusste er.«
Jetzt, da Ulf es erwähnte, erinnerte sich Maybrit. Schon als Kind war Caroline dem alten Bär, wie sie ihn immer genannt hatten, aus dem Weg gegangen und hatte später sogar Familienfeiern mit ihm gemieden.
»Sie hat sich verzweifelt an das Kind geklammert«, fuhr Ulf fort. »›Lianne war das Einzige, was ich noch hatte‹, hat sie mir gegenüber erwähnt. ›Ich habe dich für sie verlassen.‹«
Maybrit sah zum Fenster hinaus in das kalte Licht des Wintertages. Hatte sie in jenem Sommer eine Veränderung bei Caroline bemerkt? »Wie er wohl herausgefunden hat, dass sie schwanger war?«, äußerte sie gedankenversunken.
»Ist das noch wichtig?« Ulfs Stimme klang müde.
Maybrit presste die Lippen zusammen. »Er hat euch um euer Leben betrogen.«
Ulf überkreuzte die Arme vor der Brust. »Ich möchte nicht mehr über ihn sprechen, Maybrit, nie wieder«, sagte er endgültig. »Hast du das verstanden?«
Angesichts der Kälte in seiner Stimme rieb Maybrit sich unwillkürlich die Arme. »Wirst du Caroline erzählen, dass du es nun weißt?«
»Ich denke nicht. Zumindest nicht jetzt.« Er reichte ihr die Mappe. »Aber ich danke dir für deine Offenheit.«
»Ich hätte geschwiegen, wenn …« Sie konnte es nicht aussprechen, aber Ulf wusste, was sie meinte.
»… wenn sie gestorben wäre«, vollendete er ihren Satz.
Sie nickte.
Ulf lehnte sich in die Kissen zurück und schloss die Augen. Er hatte kein Wort darüber verloren, was zwischen ihm und Caroline während des Sturms vorgefallen war und warum sie auf ihn geschossen und danach versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Maybrit wiederum hatte nicht gewagt zu fragen. Auch jetzt rang sie mit sich, doch bevor sie etwas sagen oder tun konnte, klopfte es an der Tür, und Björn schaute herein.
Ulf richtete sich auf. »Wie geht es Lilli?«
»Wir haben kurz gesprochen«, antwortete Björn. »Jetzt schläft sie wieder.« Er trat ins Zimmer. »Ich habe Håkan auf dem Flur getroffen. Ich
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