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Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Dein totes Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Dein totes Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Berg
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eingehüllt, mittlerweile war die Decke an vielen Stellen zerschlissen, doch die Farben leuchteten wie früher. Es war keine zehn Minuten her, dass Ulf sie angerufen hatte. Seine Stimme klang ihr noch im Ohr. Sein Zögern, bevor er sie gefragt hatte, ob er kommen dürfe. Wie viel Überwindung hatte ihn diese Frage gekostet? Und dann ihre eigene Antwort. Ich würde mich freuen. Aber freute sie sich wirklich? Der Klang seiner Stimme hatte ihr Herz schneller klopfen lassen, und es schlug noch immer viel zu schnell, obwohl sie das Telefon längst aus der Hand gelegt hatte. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als Ulf zu sehen, mit ihm zu sprechen, das war ihr klargeworden, als er ohne ein Wort in sein Auto gestiegen und weggefahren war. Aber sie fürchtete sich auch davor, denn in seinen Augen hatte eine Härte gelegen, die sie unwillkürlich an seinen Großvater erinnert hatte. Und sie hatte sein Auto erkannt. Wenige Stunden bevor er sie aufgesucht hatte, waren sie sich schon einmal begegnet. Es war Ulfs dunkelgrauer Audi gewesen, den sie an der Schneewehe auf dem Weg ins Dorf hatte passieren lassen. Wie lange war er schon im Tal? Und wie oft war er seither zu ihr rausgefahren, ohne dass sie es bemerkt hatte?
    Caroline atmete tief durch, als Lichter durch den Raum huschten. Gleich darauf hörte sie einen Wagen auf der Grundstücksauffahrt. Sie streifte die Decke ab und stand auf. Eine Autotür schlug zu. Der Hund war sofort wach, sprang auf und rannte zur Tür. »Ruhig«, befahl sie, woraufhin er zurückwich und sich setzte.
    Es klopfte.
    Sie fuhr sich durch das Haar, rieb ihre Hände an ihrer Jeans, schluckte nervös. Dann zwang sie sich zur Ruhe und schloss die Tür auf.
    Ulf hatte ihr den Rücken zugewandt, beobachtete etwas jenseits der Veranda in der Dunkelheit, drehte sich aber sofort zu ihr um, als sie öffnete. Seine Anspannung war sichtbar wie der Atemnebel, der in der kalten Luft vor ihm aufstieg.
    Ihre Blicke trafen sich.
    »Hej, Lilli.«
    Und achtundzwanzig Jahre schmolzen zusammen.
    »Hej, Ulf.«
    Mehr brachten sie beide nicht heraus.

    Die Kälte brachte Caroline zur Besinnung. Eisig verbiss sie sich in ihren Fingern, die den Türgriff wie einen Rettungsanker umklammert hielten. »Ich … entschuldige …«, stammelte sie und räusperte sich. »Willst du nicht hereinkommen?«
    Ulf reagierte nicht sofort, als müsse auch er erst wieder zu sich kommen. »Ja … gern, danke«, erwiderte er schließlich. Sein Alter stand ihm gut zu Gesicht. Im Licht der Flurlampe bemerkte sie viele kleine Fältchen um seine Augen und in seinen Mundwinkeln, die sich vertieften, als er ihr mit verlegenem Lächeln eine in Papier gewickelte Flasche entgegenstreckte. »Ich wollte mich entschuldigen«, sagte er. »Ich habe mich heute Nachmittag wirklich bescheuert benommen.« Er war mehr als einen halben Kopf größer als sie, und in dem engen Flur war er ihr sehr nahe. Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Das … wäre nicht nötig gewesen«, entgegnete sie zögernd.
    Sie nahm die Flasche, und ihre Fingerspitzen berührten sich flüchtig. Hastig zog sie die Hand zurück und spürte seinen Blick. »Alles gut?«, fragte er. Er wirkte selbstbestimmter und souveräner als früher, so wie sein Gesicht über die Jahre eckig und markant geworden war.
    Sie nickte automatisch.
    »Sicher?«
    Nein. Seine unmittelbare Nähe war beunruhigend, rührte tief an längst vergangen geglaubte Empfindungen. »Du kannst deine Jacke hier aufhängen«, wich sie aus, indem sie auf einen freien Garderobenhaken wies, dann ging sie voraus ins Wohnzimmer, die mitgebrachte Flasche in Händen. Der Hund folgte ihr und legte sich auf seinen Platz vor dem Sofa, doch Ulf blieb wie angewurzelt in der Tür stehen.
    »Es hat sich überhaupt nichts verändert«, stellte er überrascht fest. Er hatte die Ärmel seines dunklen Wollpullovers hochgeschoben und die Hände in den Taschen seiner schwarzen Jeans vergraben. Er starrte auf die Bücherregale und die unzähligen Buchrücken, die den Schein des Kaminfeuers widerspiegelten. »Es ist …« Er suchte nach den richtigen Worten.
    »Alles wie früher?«, beendete sie den Satz für ihn.
    Er trat an die Couch und fuhr mit den Fingern über das von der Abnutzung glänzend gewordene Leder, über die Felle. »Nein, es ist eher … wie eine Zeitreise.«
    Sie lächelte ungewollt. »Das war es für mich auch.«
    Sie sahen sich an.
    Ihre Worte schwebten zwischen ihnen, und die Stille, die folgte, breitete sich aus.

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